Schachtechnisch ist der Terminus Falle mit einer Verlockung oder Irreführung gleichbedeutend. Besonders gefürchtet
sind Eröffnungsfallen, also Spielsituationen in einem frühen Partiestadium, wo eine Seite mit einem naheliegenden,
aber falschen Zug, bei dem meist taktische Folgen übersehen werden, die Partie sofort verlieren oder zumindest in
Nachteil geraten kann. Eine sehr alte Falle wird symbolträchtig als "Arche-Noah-Falle" bezeichnet, die im siebten
Zug einer Variante der spanischen Partie entstehen kann:
1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lb5 a6 4. La4 d6 5. d4 b5 6. Lb3 exd4
Nach 7. Sxd4? büßt Weiß eine Figur ein wegen 7. …Sxd4 8. Dxd4 c5 9. Dd5 Le6 10. Dc6+ Ld7 11. Dd5 c4, und der Läufer
auf b3 ist verloren.
Einer der ersten, der Eröffnungsfallen systematisch gesammelt hat, war der russische Meisterspieler Snosko-Borowski.
Veröffentlicht hat er seine Ergebnisse 1939 in dem Buch "Eröffnungsfallen am Schachbrett". Weitergeführt wurde diese
Arbeit von Rudolf Teschner. Inzwischen liegen zahlreiche Publikationen zum Thema vor.
Eröffnungsfallen sind in ihrem Aufbau meist sehr stringent, und man kennt sie oder man kennt sie nicht. Bei Fallen im
Mit-telspiel oder Endspiel kommt es dagegen weniger auf die konkrete, hundertprozentig identische Stellung an, da
spielen vor al-lem bekannte Stellungsmerkmale und verwandte Motive eine Rolle. Da hilft es schon ungemein, eine
ähnliche Stellung schon einmal gesehen zu haben, um eine potenzielle Gefahr zu vermeiden, und vielleicht gar eine
Falle zu stellen:
Damengambit D 20
O. Romanischin - A. Brenke
Lippstadt 2004
Die schwarze Dame ist angegriffen und muss ziehen. In der vorliegenden Partie beschloss Schwarz offenbar, zwei
Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und stellte seine Dame nach b5 12. …Db5? um die gegnerische von a6 zu
verscheuchen. Doch der Weißspieler, ein bekannter ukrainischer Großmeister, erkannte blitzschnell das Standardmotiv
der schwachen (schwarzen) Grundreihe und zog 13. Txb2! und Schwarz resignierte. Auf 13. …Dxa6 folgt ja 14. Txb8+ Dc8
15. Txc8 matt. 1:0
War das nun ein Einfall am Brett oder ein Déjà-vu? Möglicherweise Letzteres, denn die obige Stellung war bereits ein
Jahr früher in der Partie Shirov-Motylew (Moskau 2003) aufs Brett gekommen. Dort spielte Schwarz statt 12. …Db5 den
Zug 12. …Db7, doch nach 13. Tb2! gewann Weiß mit dem gleichen Motiv, einem Damenopfer, um auf der Grundreihe
mattzusetzen.
Ein anderes Beispiel ist gut dokumentiert, beteiligt waren weltbekannte Spieler, und die Moral der Geschichte wird
sein: Auch Spitzenspieler sind nur irrende Menschen …
Damengambit D 63
M. Euwe - A. Rubinstein
Bad Kissingen 1928
Diese Stellung ist etwas anders als die des letzten Diagramms, aber das Motiv ist das gleiche. Aljechin bekräftigte,
dass er sich gut an die Partie Euwe-Rubinstein erinnerte, aber Rubinstein war sie irgendwie entfallen.
In der ersten der beiden Partien Rubinsteins war ein taktischer Fehler (Schwarz hatte Sxd5 übersehen) für die
Niederlage ursächlich. Danach war das Motiv schon bekannt, weshalb die Partie Nummer zwei schon der Gattung
"Eröffnungsreinfall" zuzurechnen ist, oder vielleicht eher ins Kabinett der Kuriositäten gehört. Dies gilt erst
recht für das nächste Beispiel.
Bei einer der wenigen, in Deutschland ausgetragenen Schacholympiaden (Siegen 1970) spielte der deutsche
Rekordnationalspieler Wolfgang Unzicker (1925-2006) gegen den Neuseeländer Ortwin Sarapu die folgende Partie.
Sizilianisch B 29
W. Unzicker - O. Sarapu
Siegen 1970
1. e4 c5 2. Sf3 Sf6 3. e5 Sd5 4. Sc3 e6 5. Sxd5 exd5 6. d4 Sc6 7. dxc5 Lxc5 8. Dxd5 Db6 Mit dem Angriff auf
f2, wo das Schlagen mit Schach erfolgt, will Schwarz seinen Gegner zu dem Rückzug Dd2 veranlassen. Aber Weiß kann
den Einschlag auf f2 gut verkraften: 9. Lc4! Lxf2+ 10. Ke2 0-0 11. Tf1 Lc5 12. Sg5 mit vierfachem Angriff auf
das Feld f7. Schwarz muss unbedingt die Diagonale a2-g8 versperren. 12. …Sd4+ 13. Kd1 Se6 14. Se4 d6
Schwarz will, koste es, was es wolle, den Läufer c8 aktivieren. 15. exd6
Nun wurde nach 1965 einige Male …Td8 gespielt. In der vorliegenden Partie opferte Schwarz seinen Läufer im Glauben,
dass er nach 15. …Lxd6 16. Sxd6 Td8 die Figur zurückgewinnt. Doch 17. Lf4! widerlegt dieses Ansinnen
und die ganze Eröffnungsvariante; der Läufer auf f4 ist nämlich tabu. Und Tabus dürfen bekanntlich nicht gebrochen
werden: 17. …Sxf4?
Weiß machte sich das Motiv des "erstickten Matts" zunutze. 18. Dxf7+ Kh8 19. Dg8+ und wegen 19. …Txg8 20. Sf7
matt 1:0
Eine wahre Glanzpartie! Vor allem die Schlusskombination wurde immer wieder publiziert und ist wohlbekannt. Nicht
jedermann bekannt ist, dass Unzickers Sohn Alexander nicht nur alle Züge dieser Partie präsent waren, sondern er sie
12 Jahre später bei einem Turnier in München in einer Partie anwenden konnte.
Die Herren Boris Kharchenko und Gojko Vucinic sind mit den Unzickers weder verwandt noch verschwägert, dennoch
konnten sie anno 2007 in Aluschta (Ukraine) bzw. 2012 in Belgrad ihre Gegner Michail Livak bzw. Aleksandar Stamatovic
auf exakt dieselbe Weise mattsetzen!
Zum Schluss wollen wir auf ein weniger bekanntes Motiv namens "Anastasias Matt" eingehen. Damit wird Bezug genommen
auf den ersten deutschsprachigen Schachroman (Wilhelm Heinse "Anastasia und das Schachspiel", 1803). Und so kann es
entstehen:
Spanisch C 67
1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lb5 Sf6 4. 0-0 Sxe4 5. Te1 Sd6 6. Sxe5 Sxe5 7. Txe5+ Le7 Alle diese Züge sind
heutzutage durchweg gängig, jedoch fahren die Profis zumeist mit 8. Lf1 0-0 9. d4 Lf6 10. Te1 fort. Aber auch 8. Sc3
ist vorgekommen, um es nach 8. …Sxb5 9. Sd5!? mit dem Anastasia-Matt zu versuchen:
9. …0-0 10. Sxe7+ Kh8 11. Dh5
Und falls nun 11. …Sd4? so 12. Dxh7+ Kxh7 13. Th5 matt.
Versucht wurde auch 11. …g6 12. Dh6 Te8 13. Th5!, und wegen …gxh5 14. Df6 matt gab Schwarz in der Partie
Collins-Spanton, Hastings 2009, auf.
Was ist denn da schiefgelaufen? Mehrere Züge sind zu bekritteln, aber es fing mit 8. …Sxb5? an. Solide ist der Aufbau
8. …0-0 9. Ld3 Te8 10. b3 Lf6 11. Te1 Txe1+ 12. Dxe1 Se8 13. La3 d5 14. De2 Le6 mit verteilten Chancen.
Nach dieser Einstimmung fahren wir in der nächsten Ausgabe mit einer ähnlichen Thematik fort.
Schachschule 64 als PDF
Teil 114 der Schachschule 64 kann
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als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärender Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
Jahrgangsschuber
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