Eigentümlicherweise wissen manche aktiven Schachspieler nicht um die Entstehungsgeschichte der Rochade, deren
Vorläufer der sogenannte Königssprung war. Das Standardwerk "Meyers Schachlexikon" erläutert dies wie folgt:
"Um das Spiel zu beschleunigen und den König als Vorkämpfer seines Heeres ins Spiel zu bringen, gab man ihm im
Mittelalter das Recht, einmal geradeaus auf die dritte Reihe zu springen und dabei die Königin mitzunehmen. Dieser
Sprung ins übernächste Feld war also ursprünglich ein Angriffsmittel. Als nach der großen Schachreform am Ende des
15. Jh. die mächtige Dame und die langschrittigen Läufer auf dem Schachbrett erschienen, wurde daraus ein
Verteidigungs- und Sicherungsmittel, die Rochade." In den meisten Eröffnungen entwickelt sich die erste Phase der
Partie nach einem nahezu gleichen Szenario: Einige zentrumsnahe Bauern ziehen vor und machen Linien und Diagonalen
frei, auf denen die Figuren ins Spiel gebracht werden. Eine besondere Rolle spielt dabei die Rochade, mit der
gleichzeitig eine Figur mobilisiert wird (der Turm rückt zur Brettmitte) und eine andere, der König, die potenziell
gefährliche Zone verlässt. Wegen dieser Doppelfunktion wird die Rochade geschätzt und in der Praxis oft bei sich
bietender Gelegenheit ausgeführt.
Verbreitet rochieren beide Seiten in schneller Folge nacheinander und auch das macht oft Sinn. Doch in einer
bestimmten Gruppe von Stellungen erweist es sich als sinnvoll, die eigene Rochade etwas zurückzustellen und den
Umstand zu nutzen, dass sich die Gegenseite schon festgelegt hat, und man greift unverzüglich ihren König an. Dies
ist auch das Thema der Rubrik "SCHACHSCHULE 64" in dieser Ausgabe.
Der Entdecker des in dieser Trainingsfolge besprochenen Konzepts war wahrscheinlich der italienische Schachmeister
Giulio Cesare Polerio (1570-1610), der nicht nur ein spielstarker Praktiker war, sondern auch in seinen zahlreichen
Schachmanuskripten die ersten Beiträge zur Schachtheorie leistete.
Italienisch C 53
G. Saduleto - G. Polerio
Rom 1590
1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lc4 Lc5 Dies sind die Grundzüge der Italienischen Partie, in der oft eine schnelle
Öffnung des Zentrums mit c3 nebst d4 folgt. In der vorliegenden Partie präsentierte Polerio ein für die damalige Zeit
revolutionäres Konzept. 4. c3 De7 5. 0-0 d6 6. d4 Lb6 Schwarz hält das Zentrum geschlossen, belässt seinen
König auf e8 und steht bereit, bei günstiger Gelegenheit mit …h6 und …g5 aktiv zu werden. 7. Lg5 Sf6 8. d5 Sb8
9. Sbd2 Lg4 10. Dc2 h6 11. Lh4 g5 12. Lg3 a6 13. b4 Sbd7 14. a4 Sf8 15. a5 La7 16. b5 Sg6 17. bxa6 bxa6 18. Lxa6
Lxf2+ 19. Txf2 Txa6 20. Dd3 Ta8 21. Db5+ Kf8
Polerio war seiner Zeit voraus. Er erkannte, dass der weiße Freibauer auf der a-Linie keineswegs eine Bedrohung
darstellt, sondern eher zur Schwäche neigt, z. B. 22. a6 Kg7 23. a7 c5! 24. dxc6 (Oder 24. Db6 Thd8 nebst …Td7) 24.
…Txa7, gefolgt von …Tc8. Weiß hätte deshalb 22. Tff1 Kg7 23. Tfb1 spielen sollen, mit verteilten Chancen nach 23.
…Ld7. Er spielte aber 22. Db7?! Kg7 23. a6? Thb8 24. Dc6 Ta7 Hier endet die Aufzeichnung der Partie (vgl. MegaBase
2019). Vielleicht ging sie noch weiter, vielleicht gab Weiß aber auch hier schon auf, denn er wird nach dem folgenden
…Tb6 und …Ld7 den Bauern a6 einbüßen.– 0:1
Warum wurde dieses wunderbare strategische Konzept nicht nachgeahmt? Weil in jener Zeit kaum jemand davon erfuhr.
"Das erste gedruckte Schachbuch ist der Lucena von 1497, der neben zahlreichen Kompositionen auch die modernen Regeln
erklärt und einige Partien enthält", so Harry Schaack in karlonline.org/115_3. Das Werk war aber ungeeignet, die
Entwicklungen im Bereich der Eröffnungen zu verfolgen. Das wurde erst später zur Domäne von Schachmagazinen. 1836
erschien in Paris die erste Schachzeitschrift "Le Palamède", der rasch weitere folgten. Das Zeitalter der
Schachinformation begann, wenn auch noch in einem bescheidenen Rahmen, aber immerhin. Innerhalb nur weniger Jahre
wurden in verschiedenen Ländern Partien zu unserem Thema gespielt, die erste anno 1851.
Spanisch C 65
J. Löwenthal - A. Anderssen
9. Matchpartie, London 1851
1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lb5 Sf6 4. d3 Lc5 5. 0-0 Sd4 6. Sxd4 Lxd4 7. c3 Lb6 8. Lg5 h6 9. Lh4 c6 10. Lc4 g5 11. Lg3 d6
Wie einst bei Polerio. Zentrum gesichert, der Bauernvormarsch am Königsflügel kann beginnen.
12. h3 h5 13. d4 h4 14. Lh2 De7
Nochmalige Zentrumssicherung. Bis heute gilt der Grundsatz, für erfolgreiche Flügelangriffe ist ein stabiles Zentrum
eine wichtige Voraussetzung. Nun droht der Durchbruch …g5-g4. Dieser hätte mit 15. f3 gestoppt werden können und
müssen, wenngleich Schwarz auch dann mit …Sh5-f4 etwas Vorteil behaupten kann. Nach dem Partiezug 15. Sd2? wird Weiß
überrannt. 15. …g4 16. dxe5 dxe5 17. hxg4 Sxg4 18. Le2 Tg8 19. Sc4 Lc7 20. Dd2 b5 21. Se3 Dg5 22. Lxg4 Lxg4 23. f3
Lb6 24. Tae1 Td8 25. Df2 Lh3 26. f4 Dxg2+ 27. Dxg2 Lxe3+ 28. Txe3 Txg2+ 29. Kh1 Txh2+ 30. Kxh2 Lxf1 0:1
Der Weißspieler Johann Jakob Löwenthal (1810-1876) war ungarischer Schachmeister, der nach der Revolution von 1848
Ungarn verlassen musste, als Berufsspieler am Londoner Turnier 1851 teilnahm, verschiedene Turniersiege errang, aber
Wettkämpfe gegen Anderssen und Morphy verlor.
Der Sieger Adolf Anderssen aus Breslau war der erste Deutsche, der zeitweise der beste Schachspieler der Welt war
und in seiner Karriere wiederholt das hier gezeigte Angriffsmotiv umsetzte.
Im 19. Jahrhundert waren die Schachcafés ein Versammlungsort von zumeist nicht vereinsgebundenen Schachspielern und
bescheidene Einnahmequelle von Berufsspielern.
Spanisch Partie C 64
J. Arnous de Riviere - I. Kolisch
Paris 1860
16. h4? Weiß rettet seinen Läufer vor dem Anschlag …h5-h4, erkennt aber nicht die zweite, weniger
offensichtliche Gefahr. Wie schon im letzten Beispiel ist der Sicherungszug 16. f3! erforderlich. Die Strafe folgt
auf dem Fuße: 16. …b5 17. Se3 Sg4! Mit der Idee 18. hxg5 Sxe3 19. fxe3 Dxg5 20. Df3 Le6 21. Le1 0-0-0 und …Tg8,
mit einem kaum auszuhaltenden Angriff auf der g-Linie. 18. Sxg4 hxg4 19. hxg5 Dxg5 20. Te1 La6 21. Lb3 Td8
22. Dc2 Dh6 23. Kf1 Td2 Droht …Dh1 matt und gewinnt deshalb die Dame. – 0:1
Der aus Preßburg stammende Schachmeister Ignaz Kolisch lebte zu dieser Zeit in Paris. Ab 1860, als er ein Match über
zehn Partien gegen Anderssen unentschieden hielt, zählte er zu den besten Spielern seiner Generation. Gegner wie der
o. g. Franzose Jules Arnous de Riviere konnten ihm keinen ernsthaften Widerstand entgegensetzen.
In London war Grand Divan sehr bekannt, wo die folgende Partie gespielt wurde.
Wiener Partie C 25
A. Simons - S. Boden
London Grand Divan 1853
1. e4 e5 2. Sc3 Lc5 3. Sf3 De7 Ein ungewöhnlicher Zug, der jedoch nicht direkt widerlegt werden kann.
Nach 4. Sd5 Dd8 5. Lc4 c6 6. Sc3 De7 holt sich Schwarz die beiden verlorenen Tempi wieder zurück.
4. Lc4 c6 5. 0-0 d6 6. Sa4?! Das geradlinige 6. d4 ist besser. 6. …b5 7. Sxc5 bxc4 8. Sa4 Lg4 9. d3 Sf6
10. Sc3 cxd3 11. cxd3 Sbd7 12. Lg5 h6 13. Lh4 g5 14. Lg3 Sh5 15. Da4?! Besser ist 15. h3, wonach der schwarze
Läufer verschwinden (15. …Lxf3 16. Dxf3) oder sich nach e6 zurückziehen muss. 15. …Tc8 16. Tac1 Lxf3 17. gxf3 Sc5
18. Dc4 Sf4
19. Lxf4? Der entscheidende Fehler. Weiß hat nicht erkannt, dass er in der Folge die beiden "Achillesfersen"
(f3 und g2) nicht gleichzeitig wird verteidigen können. 19. …gxf4 20. Kh1 Dh4 21. Se2 Dh5 22. Sg1 Tg8
und wegen des kommenden …Dg2 matt – 0:1
Im Jahre 1862 wandte auch ein weiterer Weltklassespieler das hier besprochene Motiv an, der spätere Weltmeister
Wilhelm Steinitz.
Die Fesselung Lg5 ist mal gut, mal nicht.
Italienisch C 50
S. Dubois - W. Steinitz
London 1862
1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lc4 Lc5 4. 0-0 Sf6 5. d3 d6 6. Lg5 Als wirkungsvoll zeigt sich die Fesselung nach einer
bereits erfolgten kurzen Rochade von Schwarz: 6. …0-0?! 7. Sc3 h6 8. Lh4 g5 9. Sxg5!? mit beträchtlichen
Angriffschancen für Weiß. Hat aber Schwarz noch nicht rochiert, wird der Läufer g5 nur gejagt: 6. …h6 7. Lh4
Das kleinere Übel ist 7. Lxf6. 7. …g5 8. Lg3 h5!
In dem Werk von Tartakower & du Mont, 500 Master Games of Chess, wird auf die folgende fantasievolle Variante
eingegangen: 9. Sxg5 h4! 10. Sxf7 hxg3!! 11. Sxd8 (11. Sxh8 Lg4 12. Dd2 Dd7, drohend …Dh7) 11. …Lg4 12. Dd2 Sd4
(droht …Se2+) 13. h3 (zum Matt führt 13. Sc3 Sf3+ 14. gxf3 Lxf3) 13. …Se2+, und Schwarz gewinnt die Dame mit Vorteil
zurück. 14. Kh1 scheitert an 14. …Txh3+ 15. gxh3 Lf3 matt.
Weitere schöne Beispiele mit diesem Motiv werden in der nächsten Ausgabe veröffentlicht.
Schachschule 64 als PDF
Teil 111 der Schachschule 64 kann
hier
als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärender Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
Jahrgangsschuber
Der Preis pro Stück für 12 Ausgaben – inklusive Porto und Schutz-Verpackung beträgt € 14,90 Bestellungen bitte unter Tel.: (0421) 36 90 325