Wie ein vorgerückter Zentrumsbauer ungeahnte Kräfte entfalten kann
Diese Folge schließt eng an die letzte an, in der wir ganz allgemein über die Kraft des vorgerückten Freibauern
berichteten und einige typische Methoden aufzeigten, wie der bis auf die siebte Reihe vorgerückte Freibauer die
letzte Hürde überwindet. Mit dieser Thematik fahren wir jetzt fort, jedoch etwas stärker auf die Frage fokussiert,
wie diese typischen Rammbockstellungen in der Praxis entstehen.
Damenindisch E 12
J. Smejkal - I. Hausner
Marienbad 1978
Aus diesem Eröffnungstypus entsteht der Rammbock am häufigsten. Mit den Zügen 10 bis 13 hat Schwarz eine
asymmetrische Bauernstellung (eine Voraussetzung zur Bildung eines Freibauern) herbeigeführt und setzte dabei seine
Hoffnungen auf ein später mögliches Endspiel mit schwarzer Bauernmehrheit am Damenflügel. Dies hat in der Praxis
schon mehrmals gut funktioniert, bis die Weißspieler ein aggressives, mit dem Vorstoß d4-d5 verbundenes Vorgehen
entdeckten, das in der vorliegenden Partie lehrbuchmäßig verwirklicht wurde.
Mit 15. …Lf6 spekulierte Schwarz auf 16. e5?! Le7. Das Läufermanöver mag zwei Tempi kosten, entwertet aber das weiße
Zentrum. Der Vorstoß d4-d5 lässt sich offensichtlich nicht mehr verwirklichen, und Schwarz kann sich mit …Sa5 und
…Ld5 aktiv aufbauen. Besser ist aus weißer Sicht 16. Tad1! Der Bauer d4 wird mit taktischen Mitteln geschützt:
16.…Sxd4 17. Lxd4 Lxd4 18. Lb5 e5 (fesselt den Läufer d4) 19. Sxe5 De7 20. Sd7 Tfd8 21. Txd4 a6 22. Lxa6 Txd7 23. Lxb7
Txb7 24. Tfd1, und es ist nicht Schwarz, sondern Weiß, der auf d4 Beute gemacht hat. In der Partie geschah 16. …Le7
Der Läufer greift den a-Bauern an, den Weiß nicht (z. B. mit a3-a4 oder Ta1) zu retten versucht, er setzt vielmehr
auf den Rammbock: 17. d5! exd5 18. exd5 Sa5 19. d6
Der Rammbock ist ein wirkungsvolles Werkzeug, das wohlüberlegt eingesetzt werden muss. Bevor man mit d4-d5 losrennt,
muss man sich vergewissern, dass dem d-Bauern ein langes Leben beschert sein wird. Dies ist hier der Fall, dafür
sorgt das Visavis des Turms d1 und der Dame d8.
a) 19. …Dxd6?? 20. Lxh7+ Kxh7 21. Txd6 kostet den Nachziehenden die Dame und
b) 19. …Lxd6 20. Lxh7+ Kxh7 21. Sg5+ sichert dem Anziehenden einen siegreichen Angriff nach
b1) 21. …Kg8 22. Dh5 Te8 23. Dxf7+ Kh8 24. Dh5+ Kg8 25. Dh7+ Kf8 26. Dh8+ Ke7 27. Dxg7 matt, oder nach
b2) 21. …Kg6 22. h4 (es droht h4-h5+) 22. …Th8 23. g4 nebst h5+.
Folglich muss der angegriffene Läufer e7 wegziehen: 19. …Lf6 20. d7 Der Adler, pardon der Rammbock ist gelandet. Gut
gesichert ist er weiterhin. 20. …Dxd7?? 21. Lxh7+ Kxh7 22. Txd7 kennen wir bereits, und nach 20. …Tc7 21. Lf5 g6 22.
Lh3 Lc6 23. Lf4 Tb7 hat Weiß die angenehme Wahl zwischen den starken Zügen 24. Ld6, 24. Lh6 und - so hätte der
Großmeister vermutlich gespielt - 24. Se5! 20. …Ta8 21. Lf4 De7 22. Ld6 Dxe2 22. …Dxd6 23. Lxh7+ 23. Lxe2 Tfd8 24.
Lc7 Auch hier gewinnt Weiß die Qualität, entweder nach 24. …Lc6 25. Lxd8, oder wie in der Partie 24. …Tf8 25. Sd4 g6
26. Tfe1 Kg7 27. Lb5 Ld8? Dies verkürzt die Partie, die jedoch auf Dauer nicht zu halten war, z. B. 27. …a6 28. Lf1
Ld8 29. Ld6 Th8 30. Le5+ Lf6 (30. …f6 31. Se6+ Kf7 32. Lc3 Lc6 33. Lxa5 bxa5 34. Lc4) 31. f4 Thd8 32. Lc7, und falls
32. …Txd7, so 33. Se6+ fxe6 34. Txd7+. 28. Le5+ Lf6 29. Lxf6+ Kxf6 30. Te8 a6 31. Txf8 Txf8 32. Te1! und wegen des
kommenden Te8 1:0
In dieser Partie war der vorpreschende d-Bauer stets direkt oder indirekt geschützt. Das Visavis des Td1 und der Dd8
ermöglichte den taktischen Trick Ld3xh7+ nebst Txd6, auf den in den Kommentaren zum 19. und zum 20. Zug hingewiesen
wurde. Es gibt aber auch Fälle, wo nicht der Turm, sondern die Dame den Rammbock tatkräftig unterstützt:
Damengambit D 30
A. Vaisser - A. Bernei
Open Cappelle la Grande, 1987
Hier ist noch kein Rammbock auszumachen. Im Moment sehen wir auf c4 und d4 ein Bauernpaar, bei dem auf den
benachbarten Linien keine Bauern gleicher Farbe stehen. Die fehlende Verbindung zu den eigenen Kräften macht dieses
Bauernduo unter Umständen leicht angreifbar, weswegen sich hier der Begriff "hängende Bauern" eingebürgert hat.
Es gibt viele Partien, in den es Schwarz im weiteren Verlauf gelang seine Türme auf d8 und c8 zu platzieren und damit
die beiden Bauern unter Druck zu setzen. In anderen Fällen (die vorliegende Partie zählt dazu) kam Weiß zu dem
Vorstoß d4-d5 und nach dem Abtausch …exd5 und cxd5 entstand ein Rammbock. Hierzu sind natürlich umfangreiche
Vorarbeiten nötig, z. B. so: 9. …Le7 10. Le2 0-0 11. 0-0 b6 12. Db3 La6 13. Tac1 Tc8 14. Tfd1 Tc7 15. De3 Sa5
16. Se5 Dc8 17. Ld3
Der Bauer c4 ist vierfach angegriffen und vierfach gedeckt. Daher ist der Partiezug 17. …Lb4? naheliegend - einer
der Verteidiger von c4, der Springer d2, soll beseitigt werden -, doch Schwarz hätte diesen Zug besser mit dem
vorsorglichen …Td8 vorbereiten und damit den Durchbruch d4-d5 verhindern sollen. 18. d5! Lxd2 19. Dxd2 exd5
20. cxd5 Lxd3 20. …Sxd5? scheitert an 21. Lxa6 Dxa6 22. Dxd5. 21. Dxd3 Td8 22. Txc7 Dxc7 Der d-Bauer hängt
zwar, er kann aber vorrücken. 23. d6 Dc5 24. d7 Im Gegensatz zur letzten Partie steht hier nicht der Turm,
sondern die Dame auf der d-Linie, sie leistet aber ebenfalls gute Dienste, indem sie den mächtigen Bauern d7
zuverlässig schützt. Und der Turm d1 steht bereit, via c1 auf c8 einzudringen. 24. …Sc6 25. Sxc6 Dxc6 26. Lxf6
Mit der Idee 26. …Dxf6 27. Te1 g6 (27. …Kf8 verhindert zwar Te8, aber nach 28. Da3+ Kg8 29. Te8+ wird Schwarz
mattgesetzt. ) 28. Te8+ Kg7 29. g3, und dem Nachziehenden gehen bald die Züge aus, z. B. 29. …h5 30. h4 a6 31. Dd5 b5
32. Txd8 Dxd8 33. De5+ Kf8 (33. …Kh7 34. De8) 34. Dd6+ Kg7 35. Dc6 Kf8 36. Dc5+ Kg7 37. Dc8. Schweren Herzens schlug
Weiß mit dem Bauern auf f6: 26. …gxf6 konnte aber in der Folge den ramponierten Königsflügel nicht verteidigen:
27.h3 b5 28. Dg3+ Kh8 29. De3
Dies ist die Entscheidung. Das Schlagen …Txd7+ kostet nach De8+ ebendiesen Turm und nach 29. …De6 30. Dxa7 Dc6 31.
Dd4 De6 32. Dc5 Kg7 33. Dxb5 folgt der Vormarsch des a-Bauern bis nach a8. Dies sei ein "sadistischer Abschluss", so
ein Kommentator. Völlig hilflos muss Schwarz zusehen, wie bald auf a8 der Bauer zu einer Dame umgewandelt wird, und
nach dem Schlagen der Dame mit dem Turm erscheint auf d8 eine neue Dame, der stolze Rammbock kam an seinem
Bestimmungsort an.
Die mitunter enorme Macht des Rammbocks besteht nicht nur darin, dass der d-Bauer bis auf die Grundreihe
durchzudringen droht. Er teilt auch die gegnerischen Kräfte in zwei Teile auf und stört mächtig das Zusammenwirken
der versprengten gegnerischen Truppen, wie das dritte Beispiel drastisch veranschaulicht:
Damengambit D 61
E. Relange - F. Bertrand
Montpellier 1999
Weiß kann mit seinem Turm weder auf e7, noch auf e8 einfallen, die schwarzen Figuren verhindern dies, aber sie sind
auf dem Damenflügel versammelt und können nicht am Königsflügel aushelfen, wo es nach 26. f6! bald lichterloh brennt.
Die gefährlichste Drohung ist Dxh7 nebst Dh8 matt. Schwarz ist zwar am Zug, kann aber keinen Verteidigungswall
aufbauen:
26. …g6 27. De3. Es droht Dh6+ nebst Dg7 matt und erzwingt somit 27. …Dxf6 28. Dh6+ mit Damengewinn nach 28. …Dg7
(Oder 28. …Kg8 29. Te8+ und matt.) 29. Te8+ Txe8 30. dxe8D+ Kxe8 31. Dxg7.
Die Partie endete so: 26. …g5 27. Dxh7 Dxf6 28. Te8+ Txe8 29. dxe8D+ Kxe8 30. Dg8+ und wegen 30. …Ke7 31. Dd8+
Ke6 32. Td6+ und 33. Dxf6+ 1:0
Weitere mitunter fantastische Einsatzmöglichkeiten des Rammbocks werden im dritten Teil aufgezeigt.
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Teil 95 der Schachschule 64 kann
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eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärender Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
Jahrgangsschuber
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