Mit dem in der Überschrift angegebenen Thema haben wir uns in Grundzügen bereits in den Folgen 31 und 32 beschäftigt,
doch seitdem sind fünf Jahre vergangen und in dieser Zeit wurde die Schatzkammer mit Qualitätsopfern um weitere
schöne Exponate er-weitert, die wir in diesem Beitrag betrachten und genießen wollen.
Genießen ist nach Meinung des Autors schon das richtige Wort. Ich kann mich noch gut an eine stundenlange Rückfahrt
von einem Bundesligaspiel in den späten 90er Jahren erinnern, bei dem wir uns mit einer Diskussion über "Schönheit im
Schach" die Zeit verkürzt haben. Genannt wurden bestimmte Kombinationen und Endspielstudien, aber auch an
Qualitätsopfer wurde gedacht. Die Runde erin-nerte sich schnell an die berühmte Partie Petrosjan-Spasski, die in der
Folge 32 der Schachschule 64 im Mittelpunkt stand. Sie wurde bei der WM 1966 gespielt, die nachstehend aufgeführte
erst in diesem Herbst.
Sizilianisch B 52
V. Frolow - V. Bernadski
Omelnyk/Ukraine 2017
Weiß will offensichtlich mit seinem Turm über b5 in die gegnerische Stellung eindringen, weswegen jetzt viele
Schachspieler wohl mit 19. …Sb4 dieses Einfallstor schließen würden. Schlecht ist dieser Zug nicht, auf mehr als
Ausgleich darf Schwarz dabei aber nicht hoffen, denn mit 20. Tb3 deckt Weiß d3 und macht den Laden dicht.
Bernadski reagierte besser mit 19. …Tb4!! - ein klassisches positionelles Qualitätsopfer, dem Thema dieser
Trainingsfolge, zu dem es viele Vorgänger und viele Variationen gibt. Bei einem Qualitätsopfer erhält der Anwender
für den Turm eine Leichtfigur "plus Zugabe" in Form eines Bauern und/oder von positionellen Vorteilen wie einer
Störung der gegnerischen Bauernstruktur oder signi-fikanter Stärkung der eigenen Stellung (= positionelles
Qualitätsopfer), so wie in dieser Partie nach den Zügen 20. Lxb4 axb4
Einen Bauern hat Schwarz zwar noch nicht gewonnen, aber gleich, denn nach dem kommenden …Ta8 ist der Bauer a4 nicht
zu retten, es sei denn durch das Rückopfer 21. Ta1 Lxa1 22. Txa1 Ta8 mit materiellem Gleichstand, aber einem
positionellen Vorteil für Schwarz: der Bauer b4 ist stark, der weiße auf d3 rückständig und schutzbedürftig. Aber
dies wäre eine andere Partie; wir folgen den tatsächlichen Ereignissen.
Es gibt Fälle, wo eine Leichtfigur so stark, d. h. auf ihrem Platz gesichert und zugleich aktiv postiert ist, so wie
hier der Läufer auf d4, dass sie auch ohne die eingangs erwähnte "Zugabe" eines Bauern die fehlende Qualität ersetzt.
So müsste sich zum Beispiel der Nachziehende, selbst wenn er in der obigen Stellung keinen Bauern auf b4 hätte,
keine Sorgen machen. Mit dem Bauern b4 - ein "Zwei-Sterne-Bauer" (Mehr- und Freibauer) -, wird es für die Gegenseite
schwer. Was jetzt folgt, ist lehrbuchreif: Schwarz schickt seinen König auf die lange Reise nach a4 und drückt dann
den b-Bauern durch. Der Rest ist auch ohne viel Kommentar gut verständlich.
Durch die Praxis aus vielen Partien - Lektionen wie diese können den Lernprozess deutlich verkürzen - bekommt man
nach und nach ein Gefühl dafür, ob der Turm in einer konkreten Stellung einer Leichtfigur wirklich so überlegen ist,
wie es nach der Werte-skala den Anschein hat, oder ob der Wirkungsgrad einer Leichtfigur vielleicht so groß ist, dass
es sich lohnt, für sie einen Turm aufzugeben, also ein Qualitätsopfer zu wagen. Und schon sind wir beim nächsten
anschaulichen Beispiel angelangt. Hier brilliert Matthias Blübaum, der trotz seiner Jugend (20) bereits zu den fünf
besten deutschen Spielern zählt.
Damenindisch (ohne …e6) A 50
G. Leiva - M. Blübaum
Junioren-WM, Chanty-Mansijsk 2015
"Die Stellung ist ungefähr ausgeglichen. Wie kann man gegen einen nominell unterlegenen Spieler auf Gewinn spielen?
Ein positionelles Qualitätsopfer ist eine gute Möglichkeit, um Ungleichgewichte zu schaffen", schrieb Blübaums
langjähriger Trainer Matthias Krallmann. Gerade die beiden letzten Sätze sind ein guter Leitfaden, man sollte dies in
Erinnerung behalten. 14. …Txf3! 15. Lxf3 Sxe5 16. De2 Sxf3+ 17. Dxf3 Db6 18. Dg4 Sb4 Der Springer macht sich
auf die Reise zu seinem Traumziel d4. 19. Lg5 Sc2 20. Tad1 Sd4 21. Lf6 Tf8 22. Lxg7 Kxg7 23. f3 Dc6
Auch hier hat Schwarz mit seinem positionellen Qualitätsopfer eine vorzügliche Kompensation erlangt, z. B. 24. Sd2
(schützt f3) 24. …Db5 mit der Idee …Dd3. Der Peruaner hatte jedoch keine Lust, seine schlechtere Stellung zu
verteidigen und verlor schnell nach den weiteren Zügen 24. Sxc5?? Sxf3+ 25. Txf3 Dxc5+ 0:1
Ein anderes typisches positionelles Qualitätsopfer sehen wir in der nächsten Partie.
Spanisch C 77
F. Vallejo - R. Janssen
Bundesliga 2016
28. Tc5! Das Motiv ist nicht neu, es ist aus der Französischen Verteidigung bekannt. Die Eröffnung dieser Partie war
eine andere, aber das positionelle Qualitätsopfer funktioniert auch hier: 28. …Sxc5 29. dxc5 De6 (oder …Dd8; auf
jeden Fall muss der Springer f6 gedeckt bleiben) 30. Lxb5 Ta8 31. Lc3 nebst Sd4 erzeugt einen gewaltigen Druck und
auch eine Bauernlawine am Damenflügel. Schwarz lehnte die Annahme des Opfers zunächst ab 28. …Lc6 aber nach
29. Lxb5! griff er doch zu: 29. Lxb5 Sxc5 30. dxc5 Dxb5 31. Lxf6 Lxf6 32. Dxf6 Es droht 33. Se5 mit
Doppelangriff auf f7 und c6. 32. …De2 33. Se5 Le8 34. Sdf3 Notwendig war nun 34. …Db2 damit der Springer e5
nicht - wie es in der Partie geschieht - entscheidend nach g4 ziehen kann. Weiter könnte folgen 35. Df4 h5 36. De3
Db3 37. Sd4 Dxe3 38. fxe3
Analysediagramm
Ein Paradebeispiel für ein gelungenes positionelles Qualitätsopfer. Weiß hat in seinen beiden verbundenen Freibauern
eine mehr als ausreichende Kompensation, aber hier fällt wenigstens noch keine Entscheidung. In der Partie sehr wohl:
34. …d4? 35. Sg4 d3 36. Sxh6+ Kh7 37. Sg4 Kg8 38. Sg5 Kf8 39. Sh6 mit baldiger Mattsetzung per Sh7. 1:0
In der letzten Musterpartie wurde das toll ausgedachte positionelle Qualitätsopfer nicht angenommen, aber die
Erläuterungen verraten, was für eine Kraft dahintersteckte. Die Pointe offenbart sich erst nach etlichen Zügen. Dies
ist für positionelle Qualitätsopfer typisch.
Axel Bachmann - Wan Yunguo
Open Cappelle-la-Grande 2014
Stellung nach 21. …Sc6-a5
Der schwarze Damenspringer steht zwar im Abseits, doch der direkte Angriff 22. Lb6 kann noch mit 22. …g5 23. Se2 Tf5
24. Dxe4 Te5 25. Db4 Txe2 26. Lxa5 Lf5 beantwortet werden, wonach die schwarzen Figuren immerhin Luft bekommen. Weiß
spielte besser 22. Dxe4! Es ist kein Versehen, dass nach 22. …Lf5 nicht nur die Dame, sondern ebenfalls der sich auf
derselben Diagonale befindende Turm angegriffen ist. 23. Db4 mit der Pointe 23. …Lxb1 (Schwarz nimmt also das
Qualitätsopfer an.) 24. Txb1 b6 25. Sd5 Sb7 26. Lxb6, gefolgt von a5-a6-a7. Ein verbundenes Freibauern-Duo, dazu noch
von zwei Schwerfiguren unterstützt, ähnelt einer Dampfwalze, bei der sich die Handbremse gelöst hat. Mit dieser
kurzen Analyse und Erläuterung des möglichen positionellen Qualitätsopfers sind wir sozusagen mit dieser Präsentation
durch. In der Partie folgte nun 23. …Dd8 24. Le4 Tc8 25. Lxf5 Oder 25. Lxf5 Tc4 26. Se6 Txb4 27. Sxd8 Txb1 28. Lxb1
Txd8 29. Lb6 Ta8 30. La2 mit überlegener Stellung. 25. …Lc3? 26. Sxg6+ 1:0
Schachschule 64 als PDF
Teil 91 der Schachschule 64 kann
hier
als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärender Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
Jahrgangsschuber
Der Preis pro Stück für 12 Ausgaben – inklusive Porto und Schutz-Verpackung beträgt € 14,90 Bestellungen bitte unter Tel.: (0421) 36 90 325