Das Können im Schach basiert zu einem großen Teil auf "inhaltsspezifischem Wissen und nicht auf eine insgesamt den
Schach-Novizen überlegener Gedächtniskapazität", schreibt Prof. Dr. Regina Jucks in ihrem Buch "Was verstehen
Laien?". Die Psychologin berichtet darin u. a. über Studien (1973) von William Chase und Herbert Simon. Die Forscher
legten einem Ama-teur, einem Vereinsspieler und einem Großmeister eine Vielzahl Schachstellungen vor, mit der Bitte
sich diese einzuprägen. Dann wurden die Bretter wieder verdeckt und die Probanden gebeten, aus dem Gedächtnis die
besagten Stellungen wieder aufzubauen. Das Ergebnis in aller gebotenen Kürze: bei wild zusammengewürfelten Stellungen
konnten sich alle genauso gut bzw. genauso schlecht erinnern, bei Stellungen aus tatsächlich gespielten Partien war
der Experte haushoch überlegen.
Die wissenschaftliche Studie bestätigt das "gefühlte" Verdikt von erfahrenen Meistertrainern. Je mehr typische Motive
und Stellungen man kennt, desto sicherer betritt man das Terrain in einer Partie, und wenn in einer Stellung "etwas
drin ist", meldet sich das "inhaltsspezifische Wissen" zu Wort und bringt einen auf den richtigen Weg.
Das funktioniert oft in einer Partie, aber auch bei Komposition von Schachstudien. In dieser Folge der SCHACHSCHULE
64 wird eine geniale Studie präsentiert, die ohne Vorkenntnisse kaum jemand lösen kann, doch mit der Kenntnis dreier
Motive (hier "Bausteine" genannt) kann man auf die Lösung kommen.
Baustein 1
Turm remisiert gegen eine Dame
Zwar hat hier die Turmseite keine Mitstreiter an ihrer Seite, dennoch kann sie sich behaupten. Aufgezeigt hat den
Rettungsweg der italienische Schachmeister Domenico Ponziani bereits im 18. Jahrhundert.
Studie, Ponziani 1792
Schwarz am Zug remisiert
1. …Th7+ 2. Kg2 Tg7+ 3. Kf3 Tf7+ Der weiße König kann hier und in der Folge nicht gut die e-Linie betreten,
es würde …Te7 folgen, wonach sich die weiße Dame verabschiedet. 4. Kg4 Tg7+ 5. Kf5 Tf7+ 6. Kg6 Tg7+
Auf den ersten Blick gewinnt nun 7. Kf6 aber der taktische Trick 7. …Tg6+! 8. Kxg6 patt rettet den Nachziehenden.
Weiß kann natürlich noch 7. Kh6 versuchen, dann aber rettet sich Schwarz mit 7. …Th7+! Nach 8. Kxh7
ergibt sich ein anderes Patt-Bild, ebenso wie nach 8. Kg6 Th6+ 9. Kxh6. Und falls Weiß 8. Kg5 zieht, geht es
wieder los mit den Schachgeboten 8. …Tg7+ usw. wie vor, also – remis
Baustein 2
Abklemmen des Königs auf der Randlinie
Dies ist, so der berühmte Paul Keres in seinem uralten und immer noch empfehlenswerten Buch "Praktische Endspiele",
eine Ausnahmestellung, die bei jedem anderen Bauern für Schwarz hoffnungslos wäre, hier aber remis ist, egal wer sich
am Zug befindet.
Keres 1972
Anzug beliebig, remis
Schwarz am Zug remisiert ganz simpel mit 1. …Kf6 gefolgt von …Kf7-f8. Aber selbst mit Weiß am Zug ist die Stellung
remis. Der Versuch 1. Kg7 Kg4 würde den Bauern kosten und nach 1. h5 Kf6 2. Kh7 Kf7 3. h6 Kf8 haben wir eine
bekannte Stellung erreicht, in der Weiß zwar eine Wahl hat, jedoch nur "zwischen Remis und einer Punktteilung", wie
ein Altvorderer (möglicherweise Tartakower) witzig anmerkte. Bleibt der König auf der h-Linie, kann der Bauer nicht
vorrücken, Schwarz macht fortan nur die Züge …Kf7-f8 und wieder zurück. Und 4. Kg6 führt bekanntlich zum Remis:
4. …Kg8 5. h7+ Kh8 6. Kh6 patt.
Baustein 3
Abklemmen des Königs auf der Grundreihe
Wie leicht zu erkennen ist, würde Weiß im Falle von 1. Kf4 Kf2 2. Kf5 Kg3 3. Kxf6 Kxh4 4. Kf5 Kg3 verlieren. Richtig
ist 1. Kf3! und jetzt "tanzen" die beiden Könige die Schritte links-links oder rechts-rechts bis zum Sankt
Nimmerleinstag:
1. Kf3! Ke1 2. Ke3 Kf1 3. Kf3 Kg1 4. Kg3 Erst wenn 4. …f5 geschieht - darauf zu warten war der Sinn des
Abklemmens des gegnerischen Königs auf der Grundreihe - prescht der weiße King nach vorne:
5. Kf4 Kg2 6. Kxf5 Kf3 7. Kg5 Ke4 8.Kxh5 Kf5 und Remis analog dem "Baustein Nr. 2".
Die Studie
Nach den "Lehrjahren" bei den Bausteinen, nähern wir uns der Meisterprüfung. Oder Großmeisterprüfung, wenn man will,
denn der Autor der nachstehend vorgestellten Studie ist kein Geringerer als Jan Timman. Der Niederländer dürfte
manchem Leser eher als ein überaus erfolgreicher Spieler bekannt sein, doch das Spektrum seines Schachwissens ist
groß und er gilt auch als Experte für Endspielstudien. Diese wurde erst vor wenigen Wochen veröffentlicht und mit
einem Sonderpreis ausgezeichnet.
Jan Timman, 2017
Ceskoslovensky Sach, 2017
Weiß am Zug remisiert
Auf der Suche nach dem besten Zug kommt man zunächst auf 1. Tc5?, mit der Idee 1. …c2? 2. Txc2 Lxc2 3. Txb2, und das
schwarze Freibauernpaar hat sich verabschiedet. Das war gar nicht so schwer, könnte einem in den Sinn kommen, bis man
mit der Lösung konfrontiert wird. Dort wird 1. Tc5 mit 1. …Lc2! widerlegt; es droht …Le4+, gefolgt von …c3-c2. 2. Te1
Kb4! 3. Tb5+ Ka3 4. Kc5 La4 5. Tb4 c2 6. Te3+ Ka2 7. Txa4+ Kb1, gefolgt von …c1D+ und Schwarz setzt sich durch.
Zum Ziel führt allein 1. Tf2! Lc2! Nicht immer setzen sich zwei Freibauern auf der vorletzten Reihe durch: 1. …Kb3?
verliert nach 2. Txd1 c2 3. Td3+ Kb4 (Oder 3. …Ka2 4. Txc2 bzw. 3. …Kc4 4. Txc2+ Kxd3 5. Txb2, jeweils mit Gewinn
für Weiß.) 4. Tf4+ Ka5 5. Ta3 matt. 2. Txc2 Kb3 Auf den ersten Blick scheint der Kampf entschieden zu sein. Nach
einem Wegzug des Turms c2 kommt Schwarz zu …c3-c2 und nach der Rückgabe des Materials mit 3. Tcxb2+ cxb2 4. Kd5 Kc2
5. Txb2+ Kxb2 6. Ke4 kommt der weiße König um ein Tempo zu spät an, was leicht nachzuprüfen ist: 6. …Kc3 7. Kf5 Kd4
8. Kxf6 Ke4 9. Kxf7 Kf5 10. Kg7 (Nur eine Zugumstellung bedeutet 10. Ke7 Kg4 11. Kf6 Kxh4 12. Kf5 Kg3) 10. …Kg4 11.
Kf6 Kxh4 12. Kf5 Kg3, und der Bauer ist nicht mehr aufzuhalten.
Doch es gibt eine Rettung: 3. Tf2 c2 4. Txb2+ Kxb2
Nun nun? 5. Kd5 führt ja zum Verlust nach den weiteren Zügen 5. …Kb1 6. Tf1+ c1D 7. Txc1+ Kxc1 8. Ke4 Kd2 9. Kf5 Ke3
10. Kxf6 Kf4 11. Kxf7 Kg4 12. Kf6 Kxh4 13. Kf5 Kg3 mit Gewinn für Schwarz.
Wer einmal das Ponziani-Rettungsmotiv (vergl. Baustein Nr. 3) gesehen hat, kommt darauf: 5. Kb7!! Idee 5. …Kb1
6. Txf6 c1D 7. Tb6+, gefolgt von dem Dauerschach Ta6+/Tb6+/Ta6+, wie von Ponziani aufgezeigt. Hier noch schnell mal
nachprüfen, ob Weiß auch im Falle des Übergangs ins Bauernendspiel 7. …Db2 8. Txb2+ Kxb2 das Ziel erreicht. Ja, das
ist der Fall: 9. Kc6 Kc3 10. Kd5, mit einfachem Remis nach den weiteren Zügen: 10. …Kd3 11. Ke5 Ke3 12. Kf5 Kf3
3. Kg5 Kg3 14. Kxh5 f6 15. Kg6 Kxh4 16. Kxf6.
Timmans Studie geht weiter mit 5. …f5 Der Turm muss auf der zweiten Reihe ausharren, da sonst …c1D geschieht.
6. Kb6 f4 7. Kb5
Wieder einmal lässt Maestro Ponziani aus dem 16. Jahrhundert grüßen. Nach 7. …Kb1 muss Weiß nicht seinen Turm
hergeben, er kann 8. Txf4 c1D 9. Tb4+ spielen und wie bereits bekannt remisieren.
Der Autor der Studie baute noch ein paar "Sonderprüfungen" ein, z. B. die Falle 7. …f3! Hier funktioniert die
Idee 8. Kb4 Kb1 9. Txf3 c1D 10. Tb3+ Ka2 nicht mehr, da die schwarze Dame das Feld a3 unter Kontrolle hat.
8. Kc4! Kb1 9. Tf1+ c1D+ 10. Txc1+ Kxc1 11. Kd3
Auch hier braucht der mit eingangs vorgestellten Bausteinen vertraute Leser nur noch sein Gedächtnis zu bemühen. Da
war doch eine Verteidigungsmethode mit dem Abklemmen des gegnerischen Königs auf der Grundreihe (siehe Baustein Nr.
1), stimmt's? Auf geht's: 12. Ke3 Ke1 13. Kxf3 f6 14. Ke3 Kf1 15. Kf3 Kg1 16. Kg3 Kh1 17. Kh3, und der weiße König
hält den Kollegen auf der Grundreihe immer auf Distanz. Spielt Schwarz jedoch …f5, zum Beispiel jetzt, so begibt
sich der weiße Monarch sofort auf Bauernjagd: 17. …f5 18. Kg3 Kg1 19. Kf4 Kg2 20. Kxf5 Kf3 21. Kg5 Ke4 22. Kxh5 Kf5
23. Kh6 Kf6 und Remis. 11. …f2 12. Ke2 f1D+ 13. Kxf1 Kd2 14. Kf2 Kd3 15. Kf3 Kd4 16. Kf4 Mit Remis nach dem Abklemmen
des gegnerischen Königs auf der Randlinie (Baustein Nr. 3) 16. …f5 17. Kxf5 Kd5 18. Kg5 Ke6 19. Kxh5 Kf5 20. Kh6 Kf6,
oder (Timmans Lösung) nach 16. …f6 17. Kf5 Ke3 18. Kxf6 Kf4 19. Ke6! Kg4 20. Ke5 Kxh4 21. Kf4.
Schachschule 64 als PDF
Teil 86 der Schachschule 64 kann
hier
als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärender Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
Jahrgangsschuber
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