Bekanntlich endet das "Leben" eines Bauern im Schach meist tragisch (er wird von gegnerischen Steinen geschlagen),
vereinzelt aber mit einem Triumph. Erreicht er die gegnerische Grundreihe, kann er sich in eine beliebige Figur
umwandeln, meist wählt er die stärkste von allen, die Dame. Dies bringt eine gewaltige Aufwertung der Materialbilanz
mit sich, weswegen es sich durchaus lohnt, einiges zu investieren, um dem Umwandlungskandidaten eine freie Bahn zu
verschaffen, sprich den einen oder anderen Bauern zu opfern. Das bekannteste Beispiel ist das folgende:
Grundmotiv
Weiß am Zug
Einen Durchbruch bei einer symmetrischen Bauernaufstellung beginnt man immer in der Mitte 1. g6! um nach
1. …hxg6 2.f6 gxf6 für den letzten der drei Bauern den Weg freizuschaufeln: 3. h6 und der h-Bauer kommt durch.
Schlägt Schwarz im ersten Zug mit dem anderen Bauern, 1. …fxg6, so folgt 2. h6 gxh6 3. f6, und der f-Bauer erreicht
das Umwandlungsfeld.
Wenn auch konkret diese Stellung (beide Könige stehen weit entfernt, die weißen Bauern sind weit vorgerückt) selten
vorkommt, ist das demonstrierte Verfahren die "Mutter aller Bauerndurchbrüche". Ein schönes Beispiel zu den möglichen
Variationen hat einer der besten Endspielkönner weltweit kreiert:
J. Awerbach - J. Bebchuk
Moskau 1964
Weiß am Zug
Da Schwarz am Damenflügel einen entfernten Freibauern besitzen wird, erscheint es angebracht die Türme auf dem Brett
zu behalten, etwa 48. axb5+ Txb5 49. Te4 mit Aktivierung des Turms und wahrscheinlichem Remis. Auf die Idee, die
Türme abzutauschen, 48. Txb5 Txb5 49. axb5+ Kxb5 kann nur "ein großer Patzer oder ein großer Meister" (Zitat nach GM
Alexander Panchenko) kommen.
Ein Patzer, der die Gefahren von entfernten gegnerischen Freibauern nicht kennt, ein Meister, der die Ausnahme
erkennt. Was ist die Ausnahme? Die Stellung des weißen h-Bauern. Stünde er auf h2 oder h3, so wäre Weiß verloren. Er
steht auf h4, also weit genug vorne, um einen Durchbruch erfolgreich zu inszenieren:
Keine Macht der Welt kann die weißen Freibauern aufhalten. Selbst wenn der schwarze König losrennt - 52. …Kd7 53. f6
Ke6 54. fxg7 Kf7 - wird er mit der Übermacht nicht fertig: 55. gxh6 b5 (55. …Kg8 56. Ke4) 56. Ke3 b4 57. Kd3 Kg8 58.
Kc4, und die schwarzen Bauern werden nach und nach eingesammelt.
Die Partie endete mit dem klassischen Durchbruch 52. …hxg5 53. f6! 53. …gxf6 54. h5 nebst h6 usw. 1:0
Artverwandt und mit einer weiteren Feinheit angereichert ist das nächste Beispiel.
N. Zubarew - N. Grigorjew
Leningrad 1925
Schwarz am Zug
Auch hier besitzt eine Seite einen scheinbar unaufhaltsamen Freibauern und auch hier findet ein findiger Geist ein
Gegenmittel: 55. …b5 56. axb5+ Nun führt 56. …Kxb5 - wie das einfache Abzählen beweist - zwingend zum Remis: 57. Ke6
c4 58. bxc4+ Kxc4 59. f4 a4, und beide Seiten bekommen eine Dame. Doch der Schwarzspieler, später als Komponist von
Endspielstudien weltbekannt, entdeckte die geniale Idee 56. …Kb6!!
57. Ke6 Grigorjews genialer Einfall wurde fast ein Jahrhundert später von starken Schachprogrammen überprüft
und immer noch für korrekt befunden, nur war die Gewinnführung nach 57. Ke7!? um einiges länger. 57. …a4 58. bxa4 c4
59. f4 d3 60. cxd3 cxd3 61. f5 d2 62. f6 d1D 63. f7 De2+ 64. Kd7 Df3 65. Ke7 De4+ 66. Kd7 Df5+ 67. Ke7 De5+ 68. Kd7
Df6 69. a5+ Kxb5! 70. Ke8 De6+ 71. Kf8 Kc6 72. a6 Kd7 73. a7 Dd5 74. Kg7 Dg2+-+ und Schwarz siegt. In der Partie
geschah 57. …a4! Hier zeigt sich der Sinn von 56. …Kb6!! Stünde der schwarze König auf b5, also nach dem
Schlagen 56. …Kxb5, würde 58. bxa4 mit Schachgebot erfolgen und den Durchbruch verzögern. 58. bxa4 c4
Der Durchbruch …d4-d3 entscheidet sowohl nach 59. Kd5, als auch in der Partie:
59. f4 d3 60. cxd3 cxd3 61. f5 d2 62. f6 d1D 63. f7
63. …Dd8 Bei Stellung des weißen Königs auf e7 (s. Variante nach dem letzten Diagramm) wäre dieser Zug nicht
möglich gewesen. Hier schon und die Aufgabe von Schwarz ist kinderleicht geworden. 64. Kf5 Dd6 – 0:1
Ein Bauerndurchbruch kann auch in Stellungen mit Doppelbauern erfolgen:
A. Pomar - J. Cuadras
Olot 1974
Weiß am Zug
Die Partie ist remis, wenn Weiß Kd4 zieht. Er spielte jedoch 42. Kd6? und träumte vermutlich von einem Gewinn
wie nach 42. …Kf7 43. Ke5 Kg6 44. Ke6 Kg5 45. Kf7 h4 46. gxh4+ Kxh4 47. g3+ Kg5 (47. …Kh3 48. Kf6 Kg2 49. Kxf5 Kxf2
50. Kf4) 48. Kg7 Kh5 49. Kf6 usw. Doch es gab ein böses Erwachen: 42. …f4!! Schwarz siegt nach 43. gxf4 h4
nebst …h3 oder nach 43. exf4 h4 44. gxh4 (sonst …h3) 44. …g3 45. fxg3 e3. In der Partie geschah
43. Kd5 h4! 44. Kxe4 44. gxh4 g3 44. …f3 45. gxf3 h3 und "einer kam durch". Es folgte noch
46. fxg4 h2 47. f3 h1D 48. Kf4 Dh6+ 49. Ke4 Dg5 50. Kd4 De5+ – 0:1
Ein häufiges Szenario für einen Durchbruch in der Version zwei gegen zwei Bauern zeigt das nächste Beispiel.
M. Husek – J. Liska
Jugendmeisterschaft (CZE) 2017
Weiß am Zug
Wenn Weiß nichts Verpflichtendes unternimmt und z. B. 40. Ke3 Kc5 41. Kd3 spielt, endet die Partie mit einer
Punktteilung. Der typische Fehler 40. b4? verschaffte Schwarz eine Gewinnchance: 40. …b5! 41. axb5 (41. bxa5
bxa4 42. Kd3 Kc5 -+) 41. …a4 42. Kd3 Kc7 43. Kc2 (43. c4 a3 44. Kc3 dxc4 -+) 43. …Kb6 44. Kb2 Kxb5 45. Ka3 Kc4
46. Kxa4 Kxc3 47. b5 d4 48. b6 d3 49. b7 d2 50. b8D d1D+ 51. Ka5 Da1+ 52. Kb6 Db2+ 53. Kc7 Dxb8+ 54. Kxb8 Kd3 mit
Gewinn im Bauernendspiel. Schwarz befand sich jedoch in Zeitnot, machte blitzschnell den Kontrollzug 40. …h6?
und hätte sich nach 41. bxa5 bxa5 42. h4 h5 43. c4 dxc4 44. Kxc4 Kc6 mit einem Remis begnügen müssen. Doch sein
Gegner zwang ihm den Punkt geradezu auf: 41. Ke3? b5! Nach überstandener Zeitkontrolle hatte Schwarz genug Zeit,
um den Gewinnzug zu finden. 42. axb5 a4 43. Kd3 Kc7 44. Kc2 Kb6 45. Kb2 Kxb5 46. Ka3 Kc4 47. g4 h5 48. gxh5
Oder 48. g5 h4! 48. …gxh5 49. h4 Kb5 50. Kb2 d4! und wegen z. B. 51. Kc2 a3 52. Kb3 (52. cxd4 Kxb4)
52. …d3 53. c4+ Kc6, wonach der a- oder der d-Bauer durchkommt 0:1
Einen besonders verblüffenden Bauerndurchbruch fanden wir kürzlich in einer tschechischen Quelle. Der Kommentator war
Großmeister Petr Velicka; ob er das Beispiel selbst kreiert oder es übernommen hat, entzieht sich unserer Kenntnis.
Übungsbeispiel
P. Velicka 2017
Weiß am Zug
Nach 1. Kf7 droht Weiß mit dem Gewinn beider schwarzer Bauern: 1. …Kh8 2. Kg6 usw. Schwarz versucht 1. …h5
mit der Idee 2. gxh5? Kh6 oder 2. Kf6 hxg4 3. hxg4 Kh8 4. Kxg5 Kg7 mit Opposition und Remis. 2. h4!
reißt die Stellung auf, mit Gewinn nach 2. …hxg4 3. hxg5 g3 4. g6+ Kh6 5. g7 und 2. …gxh4 3. g5 h3 4. g6+.
2. …Kh6 3. Kf6! hxg4 3. …gxh4 4. g5+ Kh7 5. Kf7 h3 6. g6+ kennen wir bereits. 4. hxg5+ Kh5 5. g6
und auch hier ist der Bauerndurchbruch gelungen.
Schachschule 64 als PDF
Teil 85 der Schachschule 64 kann
hier
als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärender Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
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