Ein häufiger vorkommender Fehler beim Schach liegt in unseren Genen begründet, meinte der inzwischen verstorbene
tschechische Biologe Jan Spicka und begründete dies so: Es war für unsere urzeitlichen Vorfahren lebenswichtig,
Entfernungen ge-nau einzuschätzen, insbesondere die zwischen ihnen und einem herannahenden Raubtier oder bei einem
Sprung über einen tiefen Graben. Bei Entfernungen auf dem Schachbrett tritt in einigen Fällen das Phänomen auf, dass
für unterschiedlich lange Strecken trotzdem die gleiche Anzahl an Zügen erforderlich ist.
Zieht beispielsweise der König von h8 geradeaus auf der h-Linie bis nach h2, so benötigt er sechs Züge, zieht er
diagonal via g7-f6-e5 und dann f4-g3-h2, sind es ebenfalls sechs Züge - tatsächlich ist die erwähnte Diagonalstrecke
aber ca. 1,414-mal län-ger als die Gerade. Unser Gehirn besteht auf der Tatsache, dass die Diagonale auf dem
Schachbrett länger ist als die Linie oder Reihe.
Der erste, der sich von diesem Widerspruch nicht die Irre leiten ließ, war Richard Réti (1889-1929). Er
veröffentlichte 1921 eine berühmte Schachstudie.
Weiß am Zug remisiert
Die Lösung: 1. Kg7 h4 2. Kf6 Nun ist der weiße König nahe genug an seinem Bauern, so dass im Falle von 2. …h3
der letzte weiße Trumpf plötzlich sticht: 3. Ke6 h2 4. c7 Kb7 5. Kd7 nebst c8D+ und Remis. 2. …Kb6 3. Ke5 h3
3. …Kxc6 4. Kf4, und der König fängt den h-Bauern ab. 4. Kd6 h2 5. c7 remis.
Sieht man diese Studie zum ersten Mal, so misstraut man zuerst dem Urteil "remis". Und wenn man dann die Lösung
sieht, beginnt man zu ahnen, dass Schach nicht nur das viel zitierte "königliche Spiel" ist, sondern auch ein
Wunderland.
Eine Erklärung, wieso es vier Jahrhunderte - seit es das Schachspiel in der heutigen Form gibt - gedauert hat, bis
dieses Mo-tiv entdeckt wurde, liefert die oben aufgeführte "biologische" Erklärung. Es bedurfte eines unverstellten
Blickes, dieses "Ei des Kolumbus" zu entdecken.
Auch in weiteren Beispielen in dieser Folge entdeckt man originelle Schachzüge und ebenso nichtschachliche Ursachen
von Fehlern.
D. Froljanow - R. Hasangatin
Europacup, Novi Sad 2016
Weiß am Zug
Zuvor geschah schon der "Tanz" Kc7-Kd7 und nach …Td3+ wieder Kd7-c7. Doch Weiß rechnete sich mit seinen zwei
vorge-schobenen Freibauern berechtigte Gewinnchancen aus und wich ab. Er hatte die Wahl zwischen einem Königszug nach
b8 und dem in der Partie. 64. Kb6? Damit verspielte er den Sieg. Es folgte 64. …Txa3 Jetzt verliert 65. b8D Tb3+ 66.
Kc7 Txb8 67. Kxb8 a3, und Schwarz bekommt zuerst die Dame. 65. h6 Tb3+ 66. Ka6 a3 67. h7 a2 68. h8D Ta3+ 69. Kb6 a1D
70. Dxa1 Txa1 71. b8D Tb1+ 72. Kc7 Txb8 73. Kxb8 remis.
In der Ausgangsstellung war allein der ungewöhnlich anmutende "Rundgang hinter den eigenen Bauern" 64. Kb8! richtig,
doch Weiß wollte seinem Freibauern den Weg nicht verstellen und verwarf diese Idee. Hätte er die Denkblockade
überwunden, so hätte er wohl die nicht so schwer zu berechnende Variante entdeckt: 64. …Txa3 (…Th3 65. Ka7 nebst b8D)
65. h6 Th3 (Oder 65. …Tb3 66. h7 Th3 67. Ka8) 66. Ka8 Txh6 67. b8D, und mit etwas Geduld sollte Weiß gewinnen.
Die Unlust zu Rückzügen ist verständlich und hindert manchmal einen Spieler daran den besten Zug zu finden, weil er
nur die "nach-vorn-Züge" beachtet. Vor vier Jahren ging Großmeister Michail Golubew auf diese Idee in einem
russischen Schachforum ein.
ChessPro.ru forum 2012
Schwarz am Zug remisiert
Wäre Weiß am Zug, so würde er mit Tc6+ erst den gegnerischen König zurückdrängen und dann mit Kd4-d5 eine Invasion
ins gegnerische Lager einleiten. Um dies zu verhindern, muss Schwarz seinen Springer nach g6 überführen, von wo er
den gegne-rischen Bauern angreift und gleichzeitig das Feld e5 für den gegnerischen König unzugänglich macht. Und wie
bekommt man den Springer nach g6? Via h8. Geht nicht, der weiße Turm hat ja das Feld h8 unter seiner Kontrolle. Gut,
dann Rückwärtsgang ein … 1. …Kg7! 2. Kd4 Sh8! … und gleich geht es wieder nach vorn: 3. Ke5 Sg6+ 4. Ke6
4. Kxf5 scheitert an der Springergabel 4. …Se7+. 4. …Sxf4+ 5. Kxf5 Sd5 Die Bauern sind verschwunden und auf
dem Brett steht das bekanntlich remisliche Endspiel Turm gegen Springer, das nur in Sonderfällen gewonnen werden kann,
wenn nämlich der König der schwächeren Seite am Brettrand abgeklemmt ist. Dies ist hier nicht der Fall.
In dem besagten russischen Forum taufte man den Rückzug …Kg7/…Sh8, gefolgt von einer Rückkehr und Vorpreschen
"Kutusow-Manöver", in Anspielung an den russischen Heerführer, der 1812 vor Napoleons Truppen immer wieder
zurückwich, um dann mit aller Wucht siegreich zurückzukommen.
Beim Schach spielt die Psyche schon eine Rolle. Dies ist ein weites Feld, hier wollen wir zunächst nur auf ein
Phänomen eingehen, die Wirkung der "Schrecksekunde".
Jeder, der schon ein paar Partien gespielt und dabei etwas übersehen hat, kennt die Achterbahn der Gefühle. Da kommen
viele Emotionen hoch. Bei einem unerwarteten Zug, der eine zerstörerische Wirkung hat oder zu haben scheint, kommt es
immer wieder zu einer Panikreaktion: der Spieler gibt voreilig auf.
J. Müller - S. Tidman
Bunratty Masters 2007
Schwarz am Zug
Die von dem letzten Zug Le3-g5 schockierte Schwarzspielerin gab an dieser Stelle auf, weil sie nur 10. …f6 11. Lxe4
mit Figu-rengewinn gesehen hatte. Dabei gab es eine Rettung: 10. …Lb4! und hier muss sogar Weiß aufpassen.
11. Dxb4? Dxg5 12. Lxe4 Dh4+ nebst …Dxe4 ist klar günstig für Schwarz, und 11. Lxd8? Lxd2+ 12. Kxd2 Lxg2 kostet Weiß
die Qualität. Der einzige Zug ist 11. c3, wonach 11. …Dd5! folgt.
Der Anziehende kann auch hier leicht stolpern: 12. cxb4? Lxg2 mit Gewinn; 12. Lxe4?! Dxe4+ 13. Se2 Ld6, und Schwarz
hat einfach einen Bauern mehr, ebenso wie nach 12. Sf3 Lxd3 13. Dxd3 Ld6.
Ein typisches Beispiel für die "Schrecksekunde". Von einem unerwarteten Zug überrascht, sieht man überall nur
Gefahren und wird für die eigenen Chancen blind.
Gegen Fehler machen hilft nur das Training, wenn auch nicht unbegrenzt. Auch den allerbesten ihres Fachs, zwei davon
spielen gerade um die Weltmeisterschaft, unterlaufen Fehler. Doch gerade die erfolgreichsten Spieler verstehen es
gut, sich zusam-menzunehmen und zumindest nach einer Rettung zu suchen. Manchmal ist eine versteckte Rettung drin.
Gleich alles hinzuschmeißen, lohnt selten. Manche erfahrenen Spieler verzichten in dieser Situation auf das Grübeln,
stehen auf und drehen eine Runde (manchmal kaschiert als Kaffeeholen oder Gang zur Toilette), um dann mit gewissem
Abstand und abgekühltem Kopf die Situation zu überdenken.
Allgemein gültige Ratschläge kann man da freilich nicht erteilen, in Zeitnot beispielsweise lassen sich beruhigende
Spaziergänge schlecht verwirklichen.
V. Swjaginzew – S. Grigorjants
Europameisterschaft 2010
Stellung nach 22. …Da5
In der letzten Diagrammstellung war Schwarz jedoch keineswegs in Zeitnot, als da ein verblüffendes Turmopfer
„angeflogen“ kam; er hätte sich Zeit nehmen sollen, aber er gab – noch unter Schock stehend – auf.
Schwarz droht …Dxa2 nebst …c3, was droht denn der Weiße? „Gar nichts“, dachte sich der Schwarzspieler wohl, „denn
nach 23.Df4 kann ich 23.…Tb7 spielen; der Punkt f7 ist gedeckt, das Feld f8 auch. Und so etwas wie
Th3-f3 kostet Zeit, inzwischen spiele ich …Dxa2 und …c3.“ Während er vermutlich solchen Gedanken nachhing, schockte
ihn sein Gegner mit 24. Txh6! ein Zug, den Grigorjants einfach gar nicht in Betracht gezogen hatte.
Schnell sah er 24.…Txh6 25.Df8+ Kd7 26.Dd6+ und Tf8 matt, auch die andere Variante, 24.…gxh6, war bald abgehakt:
25.Df6 Te7 (Oder …Tg8 26.Dxe6+ Kd8 27.Dxg8+.) 26.Dxh8+ Kd7 27.g7 Dxa2 28.g8D Da1+ 29.Kd2 c3+ 30.Ke3, und Weiß setzt
matt. Und so gab der Nachziehende hier auf 1:0
Nach der Partie stellte sich heraus, dass das Resultat vor allem das Ergebnis der berühmten „Schrecksekunde“ war.
Wäre er nicht in Panik geraten, hätte der Nachziehende die kaltblütige Verteidigung 24.…Tg8! entdeckt. Weiß steht
zwar danach etwas besser, aber nicht unbedingt auf Gewinn, sehen Sie selbst: 25.Df7 Txf7 26.gxf7+ Kf8 27.Txe6 (droht
Te8 matt) 27.…Dd8 28.c3 a5 29.Kc2 Th8 30.Te8+ Dxe8 31.fxe8D+ Kxe8 32.b3 Th4 nebst …Tg4. Schwarz hat zwar einen Bauern
weniger, dafür aber einen aktiven Turm.
Vielleicht hätte Weiß das Turmendspiel doch gewonnen, vielleicht aber auch nicht. Weiterkämpfen hätte sich auf jeden
Fall gelohnt, aber die „Schrecksekunde“ bewog den Schwarzspieler, verfrüht das Handtuch zu werfen.
Schachschule 64 als PDF
Teil 79 der Schachschule 64 kann
hier
als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärender Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
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