Der König packt mit an! Origineller Einsatz der wichtigsten Figur beim Aufbau des Zentrums
Da die meisten Figuren im Zentrum ihre größte Kraft entfalten können, ist die Brettmitte besonders wichtig und der
Kampf um ihre Beherrschung zieht sich wie ein roter Faden durch die Eröffnungsphase. An der Baustelle in der Mitte
wirken zunächst die Leichtfiguren und die Dame mit, die Türme kommen wegen ihrer Lage am Brettrand erst später zum
Einsatz. Alle arbeiten, nur der König, der tut nichts und versteckt sich bei erstbester Gelegenheit mittels Rochade.
Stimmt das Bild? Im Prinzip schon. Da auch die Gegenseite am Zentrumsaufbau herumwerkelt, kommt es dort zu den ersten
Zusammenstößen. Der zentrale Platz wird unsicher, die schutzbedürftigste Figur macht 'ne Fliege, und das ist in der
Regel auch gut so.
Nur wird in dieser Serie immer wieder darauf hingewiesen, dass jede Regel ihre Ausnahmen hat. Eine solche steht im
Mittelpunkt dieser Trainingsfolge. Es gibt Sonderstellungen, in denen der König sein Rochaderecht aufgibt und in der
Mitte verbleibt, weil er damit den Aufbau eines mächtigen Bauernzentrums fördert.
Der erste bekannte Spieler, der diese Möglichkeit entdeckte, war Wilhelm Steinitz. Der gebürtige Prager deutscher
Zunge siedelte sich in London an, weil er als Berufsspieler zunächst nur hier seinen Lebensunterhalt finden konnte.
In England spielte er dann auch eine Partie, die Geschichte machte. In dieser Begegnung verstieß Steinitz scheinbar
gegen das "heilige" Prinzip der Königssicherung:
Wiener Partie C 25
W. Steinitz - G. Neumann
Dundee 1867
1. e4 e5 2. Sc3 Sc6 3. f4 exf4
Nach den einführenden Zügen der Damenspringer setzte Weiß ähnlich wie im Königsgambit (1. e4 e5 2. f4) mit dem Aufzug
des f-Bauern fort. Das alles war bereits zu diesem Zeitpunkt (die Partie wurde vor fast 150 Jahren gespielt) gut
erforscht, die Weißspieler setzten dann ausnahmslos mit 4. Sf3 fort, um …Dh4+ zu verhindern und erst später d2-d4
folgen zu lassen. Doch Steinitz spielte 4. d4!? Wie ist dieser Zug, der …Dh4+ mit Rochadeverlust als Folge zulässt,
zu werten? Da erinnert man sich an eine alte Schachanekdote: "Sie haben eine Figur ins Geschäft gesteckt. War es ein
Opfer oder ein Fehler?" Die Antwort: "Wenn ich die Partie gewinne, war es ein Opfer, wenn ich sie verliere, war es
ein Fehler." Analog könnte man hier, abhängig von dem Ausgang der Partie von einer revolutionären Neuerung oder von
einem Patzerzug reden. Steinitz gewann, also neigt man zunächst zu der positiven Bewertung. Die Entwicklung in dieser
Partie versetzte die Zuschauer in Aufregung, spätere Chronisten konnten sich gar nicht wieder einkriegen.
4. …Dh4+ 5. Ke2 Aber natürlich nicht 5. g3? fxg3.
Mit dem feinen vielen Entdeckern eigenen Gespür erkannte der spätere Weltmeister zwei Faktoren, die die "verrückte"
Königsstellung kompensieren. Zum einen die - eigentlich immer angestrebte - Inbesitznahme des Zentrums in der
Idealform e4 + d4, zum anderen der Zeitgewinn durch das folgende Sg1-f3 mit Angriff auf die schwarze Dame. Wie war
das nochmal mit den drei Säulen des Schachspiels? Es sind die Faktoren Zeit, Raum und Material. Sf3 dient dem
Zeitgewinn, den Raumvorteil im Zentrum hat Weiß bereits. Und was das Material anbelangt: Im Moment hat Schwarz einen
Bauern mehr, aber der auf f4 ist auf Dauer nicht zu halten. 5. …d6 6. Sf3 Lg4 7. Lxf4 Lxf3+ 8. Kxf3
Weiß hatte keine Wahl, der Läufer f4 hing ja, aber auf f3 steht der König sogar besser als zuvor. Schwarz hoffte, ihn
im Freien zu erwischen, aber er irrte. Die "Königsgarde" steht bereit, der Läufer f4 schützt vor Belästigungen wie
…Df6+, und falls …Dh5+, kann der g-Bauer nach g4 vorrücken. 8. …Sge7 9. Le2 Steinitz hielt nachträglich 9. g3! Df6
10. d5 Se5+ 11. Kg2 für noch besser. Danach steht der weiße König definitiv sicher und der weiße
Entwicklungsvorsprung kann mit Lb5+ (oder Le2) nebst Tf1 noch ausgebaut werden. In der Partie geschah jedoch
9.…0-0-0?! und weiter 10. Le3 Df6+ 11. Kg3 d5 12. Lg4+ Kb8 13. e5 Dg6 14. Kf2 h5 15. Lh3 f6 16. exf6 Dxf6+
17. Df3 Dxf3+ 18. gxf3 g6 19. Se2 Sf5 20. Lxf5 gxf5 21. c3 Ld6 22. Lf4 Kc8 23. Thg1 Kd7 24. Tg7+ Se7 25. Tag1 Ke6
26. Lxd6 Txd6 27. Sf4+ Kf6 28. Sd3 Tb6 29. b3 Th6 30. Se5 Tb5 31. a4 Ta5 Oder …Txb3 32. Sd7+ Ke6 33. Sc5+ mit
Turmgewinn. 32. b4 Ta6 33. Sd7+ Ke6 34. Sc5+ 1:0
Der Besiegte in dieser Partie, Gustav Richard Neumann (1838-1881) ist eine "heute beinahe vergessene Gestalt, doch er
war zu seiner Zeit einer der stärksten und berühmtesten Schachmeister", schreibt Wikipedia. Das Turnier, aus dem die
gezeigte Partie stammt, gewann Neumann ausgerechnet vor seinem Bezwinger Steinitz, doch dessen verblüffende Idee
überstrahlte alles, auch in der Berichterstattung.
Doch Steinitz war nicht nur ein exzellenter Praktiker, sondern auch ein scharfsinniger und objektiver Analytiker. Er
entdeckte, dass viele glänzende Siege - auch von ihm selbst - ungenügend vorbereitet und letztlich nur durch
schlechte Verteidigung zustande gekommen waren. Auch sein Gambit in der gezeigten Form verschwand später wieder aus
der Praxis. Das "Begräbnis" fand ausgerechnet bei einem Weltereignis im Zeichen der Zukunft statt, bei der
Weltausstellung Paris 1900, die mit über 48 Millionen Besuchern bis heute zu den erfolgreichsten ihrer Art zählt. Sie
wurde von unzähligen Veranstaltungen flankiert, darunter auch einem der stärksten Schachturniere jener Zeit.
Wiener Partie C 25
M. Tschigorin - J. Mortimer
Paris 1900
1. e4 e5 2. Sc3 Sc6 3. f4 exf4 4. d4 Dh4+ 5. Ke2 d5 Im Gegensatz zu 5. …d6 (siehe vorherige Partie) schlägt
Schwarz damit eine schärfere Gangart ein. 6. exd5 Lg4+ 7. Sf3 0-0-0 8. dxc6 Sf6
Mit seinem Springeropfer auf c6 beschleunigte Schwarz seine Figurenentwicklung enorm. Jetzt nur noch einen Läuferzug
(nach c5 oder b4) nebst …Th8+ und sämtliche schwarzen Figuren greifen an. Einfach verstecken kann Weiß seinen König
nicht, so folgt auf etwa 9. Kd2 Df2+ (Wozu dieses Schachgebot dient, erhellt augenblicklich die Zugfolge 9. …Txd4+
10. Ld3, und der weiße König ist gesichert.) 10. De2 (10. Le2 Lxf3, drohend …Txd4.) 10. …Txd4+ 11. Sxd4 (der einzige
legale Zug) 11. …Lxe2 mit Damengewinn.
Oh, das sieht nicht gut aus für Weiß, war Steinitz Erfindung, 5. Ke2, doch eine Schnapsidee?
Nein. Ausgerechnet einer der Hauptrivalen von Steinitz zeigte den rechten Weg. 9. De1! Schon wieder ein Zug
für die Schachgeschichtsbücher, der allerdings heute zum Arsenal der bekannten taktischen Werkzeuge gehört.
Die Pointe sehen wir nach 9. …Te8+ 10. Kd2 Es macht nichts, dass die weiße Dame geschlagen werden kann, die
schwarze hängt ja auch, und nach 10. …Txe1 11. Sxh4 behält Weiß per saldo eine Figur mehr. So war es auch in der
Partie: 10. …Dh5 11. Df2 Lb4 12. Ld3 Te3 13. cxb7+ Kb8 14. Se5!
Damit ist auch die Drohung …Lxf3 vom Tisch. Die weißen Aussichten sind nun klar besser. Weiß besitzt nicht nur eine
Figur mehr, er droht auch mit einer Springergabel auf c6 und mit dem Schlagen Dxf4, wonach sich der Turm e3 vom Brett
verabschiedet. Schwarz versuchte noch 14. …Te2+ 15. Dxe2! Aber nicht 15. Lxe2 Se4+ 16. Ke1 Sxf2. 15. …Lxe2
16. Lxe2 Se4+ 17. Kd3 Sf2+ 18. Kc4 Von e2 wandert der König weiter und greift sogar eine Figur an! Da der Läufer
e2 die Dame h5 bedroht, verbleibt dem Nachziehenden keine Zeit zu …Lxc3 oder …Sxh1. Es geschah noch 18. …Dh6 19. Lf3
droht Sd7 matt 19. …c5 20. Sd7+ Kc7 21. Lxf4+ Auch das noch. Weiß holt sich die Dame zurück und behält viel Holz mehr.
21. …Dxf4 22. Sd5+ Kxd7 23. Sxf4 Sxh1 24. dxc5 La5 25. b4 Lc7 26. Td1+ Ke8 27. Lc6+ und wegen 27. …Kf8 28. Td8+ Ke7
(…Lxd8 29. b8D) 29. Td7+ nebst Tc7 und Gewinn. 1:0
Moment mal; war nicht gerade von einem Begräbnis der Idee mit 5. Ke2 die Rede? Ausgerechnet nach einem solchen Sieg?
Ja, seit jenen Tagen kam diese Eröffnungsvariante bis heute nur noch sporadisch in Amateurpartien vor. Tschigorin
selbst machte auf den Knackpunkt aufmerksam. Wenn Schwarz ausgehend von der Stellung des vorletzten Diagramms nach 9.
De1! besser fortfährt und zwar mit 9. …Lxf3+ 10. gxf3 Te8+ 11. Se4 Dh5
Der Bauer f3, der dem Springer e4 Rückendeckung gibt, ist nun gefesselt. Forciert kommt es nun zu einer
Punktteilung:
Es droht ja …Txe4+ und 12. Kd2 scheitert an …Dxf3. Der einzige spielbare Zug ist 12. Kf2, was den Bauern f3
entfesselt, und nach …Dh4+ (sonst behält Weiß die Mehrfigur bei einem gesicherten König) 13. Ke2 Dh5 14. Kf2 Dh4+
führt die erzwungene Zugwiederholung zum remis
Kommen wir auf die eingangs gestellte rhetorische Frage - wie 5. Ke2 zu werten ist - zurück. Eine revolutionäre Idee
war es zweifellos und sie ließ sich auch nicht widerlegen. Nur spricht die erwähnte forcierte Remisvariante gegen die
Anwendung in der Praxis, man will ja spielen und nicht remisieren.
Wenn wir uns jetzt diese Idee etwas näher angeschaut haben, so war nicht etwa eine Rehabilitierung der Variante das
Ziel. Es sollte - neben einem, immer interessanten schachhistorischen Ausflug - lediglich an konkreten Beispielen
gezeigt werden, dass
- das Spiel mit einem König in der Mitte zwar stets einem Spiel mit dem Feuer gleicht, der Monarch sich dabei jedoch keineswegs Verbrennungen zuziehen muss
- man sich hüten sollte, bei einem gegnerischen König in der Mitte zu denken, die Partie sei schon gelaufen.
Schachschule 64 als PDF
Teil 71 der Schachschule 64 kann
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als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärender Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
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