Manchmal kann man ihn auch im Mittelspiel in die Waagschale werfen
Im Endspiel, wo nur noch ganz wenige gegnerische Figuren auf dem Brett herumwieseln, kann sich die schutzbedürftigste
aller Schachfiguren aus der Deckung wagen und dabei durchaus eine große Wirkung entfalten. Im Mittelspiel dagegen
gehört die Sicherung des Königs vor gegnerischen Angriffen zu den wichtigsten Aufgaben.
An diesem Grundsatz will dieser Beitrag nicht rütteln. Doch jede Regel hat ihre Ausnahmen und eine davon ist das
Thema dieser Folge. Auch bei vollem Brett gibt es manchmal "sichere Zonen", wo sich der König wohlfühlen, ins
Spielgeschehen eingreifen und sogar bei einem Angriff helfen kann.
Was heißt sichere Zone? Ein Bereich, der von den gegnerischen Figuren nicht kontrolliert wird bzw. wo diese nicht so
schnell auftauchen können. Wenn es solche Bereiche nicht gibt, dann bleibt der König besser in seiner Burg, der
Rochadestellung. Aber manchmal gibt es sie eben; ein klassisches Beispiel ist eine Gruppe von Feldern der gleichen
Farbe, die vom Gegner nicht kontrolliert werden kann, weil er den entsprechenden Läufer zuvor abgetauscht hat. Hierzu
ein anschauliches Beispiel mit einer erstaunlichen Pointe:
Aljechin-Verteidigung B 04
N. Short - J. Timman
Tilburg 1991
1. e4 Sf6 2. e5 Sd5 3. d4 d6 4. Sf3 g6 5. Lc4 Sb6 6. Lb3 Lg7 7. De2 Sc6 8. 0-0 0-0 9. h3 a5 10. a4 dxe5 11. dxe5 Sd4
12. Sxd4 Dxd4 13. Te1 e6 14. Sd2 Sd5 15. Sf3 Dc5 16. De4 Db4 17. Lc4 Sb6 Weiß hätte hier den angegriffenen Läufer
c4 auch einfach zurückziehen können, aber er ließ ihn abtauschen. Was er damit bezweckte, wurde erst später klar.
18. b3 Sxc4 19. bxc4 Es droht La3. 19. …Te8 20. Td1 Dc5 21. Dh4 b6 22. Le3 Im Lichte der kommenden
Ereignisse war hier …Df8 angebracht, um Lh6 zu verhindern. 22. …Dc6?! 23. Lh6 Lh8 24. Td8! Lb7 25. Tad1
Vorsicht, es droht De7! 25. …Lg7 26. T8d7 Tf8 27. Lxg7 Kxg7 28. T1d4 Tae8 29. Df6+ Kg8 30. h4 h5
Wir absolvierten die erste Phase der Partie im Schnelldurchlauf, hauptsächlich um die Neugier zu stillen, wie es zu
dieser Stellung gekommen ist. Nun betrachten wir die Lage genauer. Die drei weißen Schwerfiguren sind allesamt sehr
aktiv aufgestellt, die Leichtfigur trägt zum Angriff nichts bei; der wünschenswerte Zug Sg5 scheitert ja an …Dxg2
matt. Nur wenn Schwarz den Fehler beginge, den Bauern a4 zu schlagen, wäre die latente Drohung …Dxg2 aufgehoben und
der Springer f3 könnte ziehen. Aber natürlich kümmert sich Schwarz nicht um den Bauern a4, er lässt seine Dame auf c6
stehen und verhindert die Aktivierung des Springers.
Die einzige Figur, die ihre Stellung verbessern kann, ist der weiße König. In der Partie wurden ja die
schwarzfeldrigen Läufer getauscht, also kann sich der König auf den schwarzen Feldern ziemlich ungestört bewegen,
dies ist die eingangs erwähnte sichere Zone. Und der Monarch machte sich auf den Weg: 31. Kh2 Tc8 32. Kg3 Tce8 33.
Kf4! Lc8 34. Kg5!
Es droht Kh6, gefolgt von Dg7 matt. Der schwarze König kann sein Pendant nicht stoppen, auf 34. …Kh7 folgt 35. Dxg6+
(der Bauer f7 ist ja gefesselt) 35. …Kh8 36. Dh6+ Kg8 37. Kf6, und der weiße König hilft erneut, die Mattsetzung mit
Dg7 zu verwirklichen. Also gab Schwarz auf 1:0
Diese Partie ging um die Welt, nicht nur, weil sie ansprechend war, sondern auch wegen des Renommees der
Kontrahenten, die damals zu den weltbesten Spielern gehörten. Erst viel später wurde bekannt, dass Short die
Gewinnidee eines weniger bekannten slowakischen Meisters nachahmte.
Katalanisch E 05
R. Tibensky - J. Franzen
Stary Smokovec 1985
Auch hier verschwanden die schwarzfeldrigen Läufer vom Brett und die dunklen Felder am Königsflügel können nun von
dem weißen König gefahrlos betreten werden. Also, auf zum Spaziergang in der sicheren Zone:
27. Kh4 Es droht ganz "billig" der Bauerngewinn Kxh5. 27. …g6 28. Kg5 Da steht schon der ungebetene
Gast vor der Haustür und gedenkt sogar ins Schlafzimmer (h6) einzudringen. Der Hausherr kann sich ihm nicht
entgegenstellen, nach …Kg7 oder …Kh7 nutzt Weiß wieder die Fesselung auf der siebten Reihe und spielt Dxg6+.
28. …Tbb8 29. Kh6
Eine lehrreiche Kombination bahnt sich an. Nach einem neutralen Zug wie 29. …Tbc8 entscheidet das Damenopfer
30. Dxg6+ fxg6 31. Tg7+ Kh8 32. Tdd7, drohend Th7+ nebst Tdg7 matt. Zwar kann man diese Mattsetzung gerade so
verhindern, 32. …Tf7 33. Tdxf7 Df8, aber nach 34. Txf8+ Txf8 35. Txc7 ist die schwarze Stellung hoffnungslos.
In der Partie geschah 29. …Tfc8 Jetzt geht das Damenopfer nicht, der schwarze König würde in Richtung f8
fliehen können, aber 30. Txf7! reicht aus: 30. …Kxf7 31. Dxg6+ Ke7 32. Df6+?! In Zeitnot versäumte
Weiß den Abschluss 32. Dg7+ Ke8 33. Sd6+ cxd6 34. exd6, aber zum Gewinn reichte der Partiezug auch:
32. …Ke8 33. Sd6+ cxd6 34. Dxe6+ Kf8 35. exd6 Tb7 36. d7 Txd7 37. Txd7 Db6 38. Tf7+ Kg8 39. Tg7+ nebst Matt
im nächsten Zug. 1:0
Die Begegnung Tibensky - Franzen war vielleicht die Premiere des Planes mit der Überführung des Königs nach Kh6,
kombiniert mit der Mattdrohung Dg7. Ohne die Beteiligung der Dame, nur unter Mitwirkung anderer Figuren wurden schon
viel früher solche Königsmärsche erfolgreich verwirklicht. Schauen wir uns zwei Fragmente aus Partien berühmter
Altvorderen an.
S. Tarrasch – R. Réti
Wien 1922
Weiß am Zug
Beim ersten Beispiel war zwar der Bauerngewinn 33. Txe6 möglich, aber nach 33. …Kf7 34. Td6 Ta3 hätte Schwarz etwas
Gegenspiel erlangt. Vor allem aber hätte 33. Txe6 das weiße Konzept des Königsmarsches zerstört. 33. f3!
verhindert …Se4 und bereitet den Boden für Kh2-g3 vor. 33. …Se8 34. Kh2 Sd6 35. Tg7+ Kh8 36. Td7 Sb5 37. Kg3!
Sxc3 38. Kf4 Sb5 39. Ke5 Te8 40. Kf6 1:0
Weiß ist am Ziel, er gewinnt in jeder Variante, z. B. 40. …Sxd4 41. Kf7 nebst Lg7 matt oder 40. …Kg8 (gegen Kf7
gerichtet) 41. Tg7+ Kh8 42. Tb7 Sd6 (42. …Sxd4 43. Kf7 kennen wir bereits) 43. Td7 mit Springergewinn.
A. Aljechin – F. Yates
London 1922
Weiß am Zug
Der spätere Weltmeister Alexander Aljechin kommentierte in seinem Buch "Meine besten Partien 1908 - 1923", aus dem
auch hier weiter zitiert wird, den nächsten Zug 24. Kf2 folgendermaßen: "Der Beginn des Mattangriffs ist durch
die hilflose Anhäufung der schwarzen Figuren auf dem Damenflügel und die vollständige Einsamkeit des feindlichen
Königs bedingt, den alle vier weißen Figuren, mit dem König an der Spitze, bald angreifen werden."
24. …Kh7 25. h4 Tf8 26. Kg3 Tfb8 Schwarz ist völlig zur Untätigkeit verurteilt. 27. Tc7 Droht unter
anderem Sd7 und Sd7-c5 oder b6. 27. …Lb5 28. T1c5 La6 29. T5c6 Te8 30. Kf4 Nachdem die Turmverdoppelung auf
der siebten Reihe durch Tc7-f7 gesichert ist, bringt Weiß seinen König ins Zentrum. 30. …Kg8 31. h5
Im Hinblick auf das Schlussmanöver, für das dem schwarzen König der Ausweg nach g6 durch 35. Sd7! abgeschnitten
werden muss. 31. …Lf1 "Es ist interessant, dass der schwarze Läufer trotz seiner Aktionsfreiheit keinerlei
Anteil an der Verteidigung der Königsstellung nehmen kann", schreibt Aljechin. Natürlich: die schwarzfeldrigen
Läufer wurden ja abgetauscht und in der sicheren schwarzfeldrigen Zone spaziert nun der weiße König. 32. g3
Ein abwartender Zug. Falls 32. Tf7, so 32. …Tac8. 32. …La6 Auf 32. …Le2 hätte Weiß den Angriff mit 33. Sg6 in
Verbindung mit 34. Sh4 und 35. Ke5 fortgesetzt. 33. Tf7 Kh7 34. Tcc7 Tg8 35. Sd7! Droht Sf6+.
35. …Kh8 36. Sf6 Tgf8 In der Hoffnung, wenigstens einen Turm abzutauschen.
37. Txg7! Txf6 38. Ke5! Der Schlüsselzug der Kombination. Der Turm f6 kann wegen Matt in zwei Zügen weder
nach f8 zurückgehen, noch mit …Taf8 gedeckt werden (Aljechin) 1:0
Wieder hat der Königsmarsch entschieden. Schon Jahrzehnte davor schrieb der erste Weltmeister Wilhelm Steinitz:
"Der König ist eine Angriffsfigur!"
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eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärender Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
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