Katastrophen und Beinahe-Unfälle bei Übergängen ins Bauernendspiel
"Turmendspiele haben die einmalige Besonderheit, dass selbst ein bedeutender materieller Vorteil sehr häufig nicht
zum Sieg reicht", schrieb der frühere Weltmeister Wassili Smyslow im Vorwort zu seinem Buch "Geheimnisse des
Turmendspiels" (Edition Olms, ISBN 9783283005207). In Bauernendspielen ist der Ausgang des Kampfes dagegen oft
vorbestimmt, wobei zwei Motive immer wieder eine bedeutende Rolle spielen: der entfernte Freibauer und die
Opposition. Diese Erkenntnis führt oft zu Überlegungen wie "Was soll ich mich im Turmendspiel mit ungewissem Ausgang
herumplagen, wenn ich die Türme abtauschen und das Bauernendspiel locker gewinnen kann?". In der Tat ist die
technische Abwicklung ins Bauernendspiel ein probates Mittel der Gewinnführung, doch wie jede Regeln, hat auch diese
Ausnahmen. Das ist das Thema dieser Folge unserer Trainingsserien.
Wir fangen erst einmal mit einem Standardbeispiel an. "Die Opposition beschreibt die Stellung der Könige zueinander.
Wer sie einnimmt, kann den gegnerischen König in Zugzwang bringen und so kritische Felder erobern", so Meyers
Schachlexikon.
Zieht Weiß in der Diagrammstellung richtig 1. Kd5, so hat er die Opposition eingenommen, er kann den
gegnerischen König abdrängen und seinen Bauern durchbringen: 1. …Ke7 Oder …Kd7 2. d4 Ke7 3. Kc6 Kd8 4. Kd6 Ke8
5. Kc7 Ke7 6. d5, und der Bauer läuft durch. 2. Kc6 Kd8 3. d4 Kc8 4. d5 Kd8 5. Kd6 Aber nicht 5. d6?? Kc8
6. d7+ Kd8 7. Kd6 patt. 5. …Ke8 5. …Kc8 6. Ke7 6. Kc7 nebst d6 usw.
Alter Hut? Ja, in dieser Form, wenn die Einnahme der Opposition garantiert ist. Bei Übergängen aus Turmendspielen
muss man einen alten Trick im Auge behalten:
R. Spielmann – O. Duras
Karlsbad 1907
Weiß am Zug
Die Stellung ist remis und sie wäre es nach Kg3 geblieben. Doch der Weißspieler wollte nicht weichen, zog 99. Tf4?
und verließ sich darauf, dass das Bauernendspiel nach 99. …Txf4+ 100. Kxf4 remis ist, was auch stimmt, z. B. …f5 101.
Kf3 Kg5 102. Kg3 usw., immer nimmt der Verteidiger die Opposition ein und rettet sich.
Doch Schwarz tauschte nicht selbst die Türme, sondern erzwang den Abtausch mit 99. …Kg5! und wegen 100. Txf5+
Kxf5 mit siegbringender Opposition wie im einleitenden Beispiel gab Weiß auf - 0:1
Ein komplizierteres Beispiel zum Thema "Wechsel des Zugrechts in Opposition" finden Sie in der letzten Ausgabe in
einer anderen Trainingsrubrik auf Seite 39.
L. Ljubojevic – W. Browne
Amsterdam 1972
Weiß am Zug
Ein weiterer verfehlter Turmabtausch geschah in einer 65 Jahre später gespielten Partie. Auch hier ist die
Ausgangsstellung remis, wenn Weiß es bei dem Turmendspiel belässt und mit 37. Kxa5 Txa2+ 38. Kxb4 fortfährt. Doch er
glaubte, auch das Bauernendspiel sei remis und spielte 37. Txa5? Txa2+ 38. Kxb4 Txa5 39. Kxa5
Kaum waren die Partieformulare dieser vermeintlichen "nix-los-Partie" unterschrieben, schon meldeten sich andere
Turnierteilnehmer zu Wort mit einem berechtigten Einwand. In der Stellung des letzten Diagramms war ein toller Trick
möglich: 39. …Kd5!! versperrt dem weißen König den Weg zu dem gegnerischen Bauern, nach 40. Kb4 folgt …Kd4, und
Schwarz gewinnt nach den weiteren Zügen 40. b4 f5 41. b5 f4 42. b6 Kc6! Treibt den weißen König nach a6, damit die
Bauernumwandlung auf f1 mit Schachgebot erfolgt. 43. Ka6 f3 44. b7 f2 45. b8D f1D+ 46. Ka5 (46. Ka7 Da1 matt) 46.
…Da1+ 47. Kb4 Db1+ mit Damengewinn.
Hier hätte ein Zwischenzug des Königs die zuvor erfolgte Abtauschaktion widerlegt, aber Schwarz hatte das übersehen.
In einer anderen Partie nahm der Nachziehende die sich überraschend bietende Chance wahr.
F. Yates – F. Marshall
Karlsbad 1929
Weiß am Zug
Frederick Yates war als sechsfacher britischer Champion nicht irgendwer, aber Frank Marshall gehörte zeitweise zu den
besten Spielern der Welt und besaß somit ein noch höheres Renommee. Deshalb schmeckte ihm möglicherweise nicht, dass
sein Gegner die total verlorene Stellung immer noch weiterspielte. Also wollte er ihn schnell erledigen. Statt in
aller Ruhe zu gewinnen mit den Zügen 58. Dc2 a3 (58. …Ka1 59. Dxa4+ Kb1 60. Kc3 Kc1 61. Dc2 matt wäre angemessen
schnell gewesen.) 59. Kc4 Ka1 60. Kb3 b1D+ 61. Dxb1+ Kxb1 62. Kxa3 Kc2 63. f4 Kd3 64. f5 usw., wählte er den
vermeintlich kürzeren Weg 58. Kc4? b1D 59. Dxb1+ Kxb1 60. Kb4
Der a-Bauer ist nicht zu retten und nach …Kc2 61. f4 Kd3 62. f5 sieht der schwarze König von dem f-Bauern nur noch
die Rücklichter. Also Aufgabe? Mitnichten! 60. …Kb2! Das Motiv der "Verkürzung des Diagonalweges". Wegen der
Drohung …a4-a3 muss 61. Kxa4 geschehen, wonach der schwarze König, anders als in der letzten Variante, den f-Bauern
aufhält: 61. …Kc3 62. f4 Kd4 - remis
Mit dem geschickten Tempogewinn 60. …Kb2! verfrachtete Schwarz seinen König auf die benachbarte Diagonale und
beschleunigte damit die Verfolgung des gegnerischen Freibauern. Das vielleicht feinste Beispiel zu diesem Thema wurde
im Duell der erfolgreichsten deutschen Spieler der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert kreiert.
E. Lasker – S. Tarrasch
St. Petersburg 1914
Weiß am Zug
Am Damenflügel steht die Entscheidung bevor. Nach einem beliebigen Zug des weißen Königs setzten sich die schwarzen
Bauern auch ohne die Hilfe des eigenen Königs durch: 41. …c4 42. bxc4 bxc4, gefolgt von …c3 und …a4-a3 usw. Der
damals amtierende Weltmeister fand jedoch die geniale Idee 40. h4 droht h5 40. …Kg4 Jetzt hilft der
direkte Weg 41.Kf6 nicht weiter, Schwarz kommt mit 41. …c4 42. bxc4 (Oder 42. Ke5 c3 43. bxc3 a4 und auf a1 erscheint
bald eine schwarze Dame.) 42. …bxc4 43. Ke5 c3 44. bxc3 a4 usw. Aber der Diagonalwechsel 41. Kg6!! rettet die
Partie. Nach 41.…c4 folgt 42. bxc4 bxc4 43. h5, und Weiß bekommt auf h8 eine Dame. Also 41. …Kxh4 42. Kf5!
Auf der Diagonale h7-b1 kommt Weiß rechtzeitig am Damenflügel an, z. B. 42. …c4 43. bxc4 bxc4 44. Ke4 c3 45. bxc3,
und nun:
a) Ja nicht 45. …a4?? 46. Kd3 Kg4 47. Kc4 Kf4 48. Kb4 Ke4 49. Kxa4 Kd5 50. Kb5 Kd6 51. c4 Kc7 52. Kc5, mit Opposition
und Gewinn für Weiß.
b) 45. …Kg4 46. Kd4 Kf4 47. Kc4 Ke3 48. Kb5 Kd3 49. c4 a4 remis.
In der Partie geschah noch42. …Kg3 43. Ke4 Kf2 44. Kd5 Ke3 45. Kxc5 Kd3 46. Kxb5 Kc2 47. Kxa5 Kxb3 - remis
Zurück zum Hauptthema "verfehlter Übergang ins Bauernendspiel".
V. Borisenko – K. Zvorykina
Riga 1963
Weiß am Zug
Angesichts der aktiven Stellung von Schwarz dürfte der weiße Mehrbauer kaum zu verwerten sein. Weiß hätte deshalb
besser das Damenendspiel weitergespielt. Der Übergang ins Bauernendspiel 38. Df4? erwies sich als schicksalhaft.
Weiß hatte zwar 38. …Dxf4+ 39. Kxf4 a4 40. Ke4 b4 gesehen, aber falsch eingeschätzt. Nach 41. Kxd4 bxa3 42. Kc3
ist der weiße König an das Feld c3 gebunden (sonst geschieht …a3-a2) und er blockiert auch noch den eigenen Bauern c2:
Schwarz gewinnt nun leicht mit 42. …Kg5 43. d4 Kxg4 44. d5 Kf5. Der König auf c3 kann einem nur leidtun! Und
das alles wegen des verflixten Damenabtausches … 0:1
Schachschule 64 als PDF
Teil 68 der Schachschule 64 kann
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als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärender Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
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