"Die Theorie des Endspiels zu beherrschen ist eigentlich nicht schwierig! Alles, was Sie dazu kennen müssen, ist eine
überschaubare Anzahl charakteristischer (in der Regel elementarer) Positionen, die wichtigsten Regeln, Einschätzungen
und typischen Vorgehensweisen", so der weltbekannte Trainer Mark Dworetski in seinem Buch "Die Endspieluniversität"
(2002).
Dies gilt nicht nur für das Endspiel, sondern auch für das Mittelspiel, insbesondere fürs Erlernen von taktischen
Motiven. Viele Trainer plädieren für die Lerntechnik, die auf einer schrittweise Verankerung möglicher Vorstufen
einer Kombination im Langzeitgedächtnis basiert. Gleich ein Beispiel:
J. Gallagher – R. Schweizer
Turnier in Bad Zurzach, 1995
Weiß am Zug
Nehmen wir einfach den Läufer g7 vom Brett. Irgendwelche Vorschläge für Weiß? Natürlich Se7 matt, das ist doch
einfach! Nun steht aber der Läufer auf g7, der Zug Se7+ setzt kein Matt, jedenfalls nicht sofort. Es wäre schön, wenn
der Läufer von g7 verschwinden würde, doch mit gutem Zureden ist es nicht getan. Mit roher Gewalt schon: 18. Dh6! – 1:0
Dies ist eine einfache Standardkombination mit dem Thema "Ablenkung". Dieser Begriff ist per Definition "ein
Kombinationsmotiv, bei dem eine Figur des Gegenspielers genötigt wird, ihren Platz zu verlassen. Oft ist dies
verbunden mit einem Opfer." Hier konkret muss der nunmehr zweifach angegriffene Läufer g7 reagieren, sonst folgt Dxg7
matt. Nach 18. …Lxh6 setzt Weiß mit Se7 matt, nach 18. …Lxf6 19. Sxf6+ Kh8 20. Dxh7 matt dauert es halt ein wenig
länger.
Das Thema "Ablenkung" haben wir in dieser Rubrik schon gestreift, aber wie bei manch anderen Tätigkeiten gilt, man
muss es immer wieder üben, bis es sitzt und die Erfolge sich einstellen. Also - weiter geht's:
D. Solak – Z. Arsovic
Serbische Liga 2007
Weiß am Zug
Oft hilft es bei konkreter Berechnung, wenn man sich das ideale Stellungsbild ins Gedächtnis holt, auch wenn es
unmittelbar nicht zu realisieren ist. Hier konkret: Ein Mattbild könnte nach Df6+ entstehen, was im Moment durch die
Dame e7 verhindert ist. Wäre die Dame nicht da … also Ablenkung … heureka! 36. Te8! – 1:0
Weil der Turm wegen des erwähnten Matts tabu ist und auf 36. …Dg5 37. Dxf7 nebst Te6+ die Dame gewinnt.
Sizilianisch B 30
S. Solomon - G. Lane
Zonenturnier, Auckland 2005
Die erste Idee, die einem in den Sinn kommt, dürfte …Ld5 sein, damit droht …Dxg2 matt. Doch Weiß kann die Schwäche g2
einfach mit Dg3 decken. Es wäre schön, wenn die weiße Dame nicht nach g3 ziehen könnte, wie lenkt man sie ab? Und
schon wurde die Idee 30. …Txc5! geboren. 31. Dxc5 31. dxc5 geht ja nicht gut wegen 31. …Dxe5 31. …Ld5
Das Turmopfer diente der Ablenkung der weißen Dame von e5. Der Zug Dg3 geht nicht mehr, …Dxg2 droht wirklich. Weiß
hätte hier aufgeben können, er tat dies erst nach den weiteren Zügen 32. T1a2 Lxa2 33. Da5 Dc1+ 34. Kh2 Df4+ 35. Kh1
Tc8 – 0:1
Sizilianisch B 32
J. Mendeiros - M. Torralba
Issy les Moulineaux 2000
Weiß rannte in dieser Partie mit seinen Freibauern am Damenflügel los und kümmerte sich nicht um seinen König. In der
Diagrammstellung führt die Vorüberlegung "wäre da nicht der Bauer h2, würde …Dh1 matt folgen, ohne den Bauern f2
ginge …Tf1+ und matt" den Schwarzspieler auf die richtige Fährte. Wie beseitigt man den Bauern h2 resp. f2? So:
29.…Lg3! und Aufgabe wegen des kommenden Matts mit der Dame auf dem Feld h2 oder h1. 0:1
D. Flores – L. Perez
Havanna 2005
Weiß am Zug
Und schon wieder hilft die Imaginierung einer Wunschstellung weiter. Stünde da nicht die schwarze Dame auf c6, käme
Db7 matt. Die Dame ist aber da, wie lenkt man sie ab? Wenn es nicht geht, muss man sich halt anderen Überlegungen
zuwenden. Aber vielleicht geht es doch, wie hier: 47. Lxd4 cxd4 48. Tc2! Ein klassisches Ablenkungsopfer mit der Idee
…Dxc2 49. Db7 matt. Die schwarze Dame ist angegriffen und kann nicht nach a6 ausweichen, es würde Dd5+ nebst Matt
folgen. Der Partiezug 48. …Tc7 verlor nach 49. Dxc7 einen Turm, deshalb - 1:0.
Genug abgelenkt, nun wollen wir uns einem verwandten taktischen Thema zuwenden. Die Hinlenkung ist ein
Kombinationsmotiv, bei dem eine gegnerische Figur mit einer bestimmten Absicht oft unter Opfern an einen bestimmten
Ort genötigt wird, weil man dort mit dieser Figur etwas vorhat.
K. Gulamali – M. Khachiyan
Las Vegas 2014
Schwarz am Zug
In dieser Stellung kann Schwarz mit …Sf4+ ein Schach bieten, was freilich unsinnig wäre, Weiß kann ja mit Dxf4
antwortet. Stünde aber die weiße Dame auf e2, so wäre …Sf4+ nicht nur möglich, sondern auch siegbringend. Wie kriegt
man die weiße Dame nach e2? Mit dem Opfer 28. …Te2+! wird sie dort hingelenkt, es folgt …Sf4+ mit Damengewinn.
– 0:1
K. Miton – C. Paci
Französische Liga 2010
Weiß am Zug
Das Auge schweift zunächst zu 27. Dc3 (droht Dxg7 matt) 27. …Tf7 28. b4 axb4 29. axb4, doch aus dem geplanten
Läufergewinn wird nichts, da Schwarz 29. …Sxd5! zieht. Also muss man die Reihenfolge umdrehen: 27. b4!
Hinlenkung des Läufers nach b4.27. …axb4 28. axb4 Lxb4 29. Dd4
mit der Doppeldrohung Dxg7 matt und Dxb4. Die Partie ist entschieden. Es folgte noch
29. …Sf6 30. Dxb4 Se4 31. Tf3 Sxd5 32. Db3 Df7 33. Sxe3 – 1:0
Ein schönes Hinlenkungsopfer sehen wir im letzten Beispiel.
J. Polgar – L. B. Hansen
Vejstrup 1989
Weiß am Zug
Nach dem sich anbietenden Schlagen Tfxf7 kann Schwarz mit dem Schachgebot …Te4+ gegenhalten. Das liegt daran, dass
der Zug Txf7 mit keinem Schach verbunden ist und somit nicht vorrangig bedient werden muss. Anders sieht die Sache
aus, wenn der schwarze König mit dem Partiezug 33. Dg7+! auf die siebte Reihe hingelenkt wird, danach folgt auf das
erzwungene 33. …Kxg7 das Schlagen mit 34. Tfxf7+ mit Schach. Wegen der forcierten Folge 34. …Kh8 35. Th7+ Kg8 36.
Tbg7 matt gab Schwarz auf – 1:0
Diese Kombination hat ein 13-jähriges Mädchen gespielt. Danach war Judit Polgar 25 Jahre lang die führende
Schachspielerin der Welt. Vor wenigen Tagen erkläre sie ihren Rücktritt, wie in einem Interview in dieser Ausgabe
nachzulesen ist.
Schachschule 64 als PDF
Teil 52 der Schachschule 64 kann
hier
als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärender Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
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