Siegen durch Verführen
Ein kleiner Ausflug durch die Welt des Fallenspiels
Die Überschrift ist jugendfrei und der Mythologie entlehnt. Für die griechischen Fabelwesen Sirenen und für die
deutsche Legende Loreley diente ein betörender Gesang als Lockmittel, um vorbeifahrende Schiffer ins Verderben zu
stürzen.
Im Denksport Schach wird ein gleich konstruiertes, wenngleich unblutiges Kampfmittel eingesetzt, das Fallenspiel oder
einfach die Falle. Schachtechnisch handelt es sich bei einer Falle "um eine Verlockung oder Irreführung", definiert
Meyers Schachlexikon, "in der eine Seite mit einem naheliegenden, aber falschen Zug - bei dem meist taktische Folgen
übersehen werden - die Partie sofort verlieren, in Nachteil geraten oder um Gewinnchancen gebracht werden kann."
Welcher Köder ist unwiderstehlich genug, damit die gegnerische Aufmerksamkeit nachlässt oder zum Zugreifen animiert?
In der Regel bietet ein schneller und müheloser Materialgewinn eine ähnliche Anziehungskraft wie manches
Werbeversprechen von risikolosen hohen Zinsen. Nicht jeder fällt darauf ein, aber oft genug findet sich ein Opfer.
Bleiben wir in unserer Welt und schauen uns anhand konkreter Beispiele an, wie so etwas funktioniert.
Damengambit D 45
S. Reshevsky - G. Shainswit
Wertheim Memorial, New York 1951
Der Anziehende, in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts einer der renommiertesten Spieler weltweit, hat diesmal
nicht viel erreicht und wird nun mit den Drohungen …Sxf1 und …exf4 konfrontiert. Natürlich muss der angegriffene Turm
weichen, doch nach 27. Tf2 Tfd8 steht der Nachziehende sehr aktiv und nach 27. Tfd1 exf4 28. Ld4 Dh5! (droht …Se2+)
29. Tc2 fxe3 gewinnt Schwarz einen Bauern. Reshevsky verband seinen Zug 27. Tf3!? mit einer raffinierten Falle. Er
verschafft seinem Gegner die Gelegenheit zu einer Bauerngabel 27. …e4? (besser ist 27. …Tfd8) mit Angriff auf die
Dame und den Turm. Wie berichtet, beachtete der Schwarzspieler noch 28. Dc3, was zwar Dxg7 matt droht, jedoch an der
Springergabel auf e2 scheitert, und schloss daher richtig diesen Damenzug aus. Doch die Dame muss sich nicht retten,
der Turm startet einen unwiderstehlichen Angriff: 28. Txg3! exd3 29. Txg7+ Kh8
und nun nicht 30. Tg5+? f6 31. Txc5, was zwar die Dame zurückgewinnt, aber mit einer Qualität weniger zurückbleibt,
sondern 30. Txf7+! (beseitigt den f-Bauern, damit die Verteidigung …f7-f6 ausscheidet) 30. …Kg8 31. Tg7+ Kh8
und nun entscheidet ein beliebiger Turmzug auf der g-Linie; Weiß entschied sich für 32. Tg3+ und Schwarz kann
die Mattsetzung nicht verhindern – 1:0
Nach einem ähnlichen Strickmuster (Weiß stellt vermeintlich eine Figur ein und verwirklich bei der Annahme einen
entscheidenden Angriff) sehen wir in der nächsten Partie zwischen zwei berühmten Altvorderen. Michail Tschigorin
(1850-1908) war der beste russische Spieler des 19. Jahrhunderts, Georg Marco (1863-1923) ein rumänisch-stämmiger
österreichischer Meister und zudem begnadeter Schachpublizist.
Königsgambit C 32
M. Tschigorin - G. Marco
Wien 1898
Nachdem Tschigorin wie erwähnt im 31. Zug einen Gewinn verpasst hatte, blieb seine Stellung vorteilhaft, sie war
jedoch nicht mehr so einfach zu gewinnen. Insbesondere das Schlagen des Springers kommt nicht in Betracht, nach 33.
Dxf4? Dxf4 34. Txf4 Txc1+ landet Weiß in einem schlechteren Endspiel. Und der Versuch 33. Txf4 Txc1+ 34. Kh2 Dd1 35.
Tf8+ Kh7 endet noch schlechter; Weiß hat nichts, Schwarz droht …Dh1 matt.
Tschigorin dachte sich eine interessante Falle aus. Mit 33. Kh2! lud er seinen Gegner ein zu 33. …Txc1
Aber nicht 33.…Se2? 34. Tf8+ Kh7 35. Dd3+ g6 36. Dxb1. 34. Txc1 Se2
Im Falle von 35. De3? Sxc1 36. Dxc1 Lxa2 leitet Schwarz wieder in ein günstiges Endspiel über. Doch Tschigorin nutzt
die Atempause, um seine Dame ideal - in der Brettmitte - aufzustellen 35. De5 Sxc1 Falls 35. …Df4+, so 36. Dxf4 Sxf4
37. Txc6 mit prosaischem Gewinn. 36. Se8 Das Feld g7 ist nicht zu überdecken, und 36. …Df4+ 37. Dxf4 verzögert nur
die Mattsetzung um einige Züge. 1:0
Sieben Jahre später kam es erneut zu einem russisch-österreichischen Duell unter Beteiligung von Tschigorin. Sein
Gegner war diesmal Carl Schlechter (1874-1918), der in seinen besten Jahren kurzzeitig der zweitstärkste Spieler der
Welt war und 1910 ein unentschiedenes WM-Match gegen Lasker spielte, in dem er sogar kurz vor einem Sieg stand.
Tschigorin und Schlechter kreuzten in neun Jahren (zwischen 1898 und 1907) neunmal die Klingen, und alle Partie
endeten remis, wenngleich oft nach einem großen Kampf und einmal nach einem wahren "Wunder".
Königsgambit C 30
M. Tschigorin - C. Schlechter
Ostende 1905
In verlorener Stellung stellte Schlechter die letzte Falle: 44. …Dc7+ Weiß hat die Wahl, er kann den Bauern
nach b6 vorschieben (was gewonnen hätte) oder mit der Dame selber Schach bieten: 45. Db6+ Zu genau diesem Zug wollte
Schwarz seinen Gegner verlocken. Nach dem vermeintlich unabwendbaren Damenabtausch ist das Endspiel für Weiß
kinderleicht gewonnen, doch der Trick 45. …Ka8!! rettet die Partie. Das Schlagen der Dame ergibt patt,
doch selbst wenn Weiß verzichtet, kommt er nicht weiter: 46. Ka6 Dc8+ 47. Ka5 Dc7!! Eine tolle Rettung!remis
Als Köder werden dem Gegner nicht nur materielle, sondern oft auch positionelle Vorteile angeboten. Nimmt er das
vermeintliche Schnäppchen mit, schnappt die Falle zu. Réti stand in der langen Partie fast immer auf Gewinn, griff
aber in Zeitnot fehl und landete dann in diesem Endspiel, das mit normalen Mittel nicht zu gewinnen ist.
B. Kostic – R. Réti
Göteborg 1920
Schwarz am Zug
Weiß droht b7-b8D, und falls Schwarz mit 61. …Kh3 die Mattdrohung …Td1 aufstellt, remisiert Weiß mit 62. Txf4 Tb2
(62. …Td1+ 63. Tf1) 63. Tf1 Txb6 64. Ta1 Tb2 65. Tc1 Tg2+ 66. Kh1 Th2+ 67. Kg1 usw., es gibt kein Weiterkommen. Doch
Réti wollte gewinnen: 61. …Kg5! Weiß hat offenbar nur seine Dame auf b8 im Kopf und schätzt diesen "Rückzug" falsch
ein. Dabei knüpft Schwarz bereits ein Mattnetz. Der Vorstoß …f4-f3 hätte verhindert werden müssen, weshalb Tb3 hätte
geschehen müssen. Doch der Sirenengesang war zu verlockend, Weiß schickte seinen Freibauern auf den Weg 62. b7?
freute sich auf die auf b8 bald entstehende Dame und - wurde mattgesetzt: 62. …f3 63. Tb1
Dies ist eine wichtige Stellung zum Einprägen. Ein Schachgebot des Bauern verliert (…f2+? 64. Kg2), ebenso wie der
Turmzug 63. …Th2? wegen 64. b8D f2+ 65. Kf1 Th1+ 66. Kg2. Aber 63. …Tg2+! treibt den weißen König ins Verderben:
64.Kf1 Oder 64. Kh1 Th2+ 65. Kg1 f2+ 66. Kf1 Th1+ 67. Ke2 Txb1. 64. …Th2 65. Tb5+ Kg4 Es droht …Th1 matt.
66. Ke1 Te2+ mit Gewinn nach 67. Kd1 (Wahlweise 67. Kf1 g2+ 68. Kg1 Te1+ und …g1D matt) 67. …g2 68. b8D g1D
matt, deshalb 0:1
"Seien Sie misstrauisch, wenn Ihnen jemand etwas schenken will! Im Ergebnis erhalten Sie Ramschware oder werden Ihrer
wertvollen Schmuckstücke beraubt", warnte kürzlich der Freund und Helfer. Diese Lebenserfahrung kann man mit
Abstrichen aufs Schach übertragen. Wenn der Gegner plötzlich Material oder sonstige Vorteile anbietet, könnte es ein
Fehler sein - oder eine Falle!
Schachschule 64 als PDF
Teil 51 der Schachschule 64 kann
hier
als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärender Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
Jahrgangsschuber
Der Preis pro Stück für 12 Ausgaben – inklusive Porto und Schutz-Verpackung beträgt € 14,90 Bestellungen bitte unter Tel.: (0421) 36 90 325