Teil 1: Der Läufer in der Ecke – der perfekte Wasserträger für die Dame
Im Schach hilft die Kenntnis von Faustregeln, Richtschnüren und Schemata ungemein. Zu den grundlegenden Faktoren
gehört die Bedeutung der zentralen Felder. Das Zentrum soll kontrolliert oder besetzt werden, denn von hier aus
entfalten die Figuren ihre größte Wirksamkeit. Insbesondere die Leichtfiguren Läufer und vor allem der Springer
besitzen von der Brettmitte aus weit größere Möglichkeiten, als wenn sie auf einem Eckfeld postiert sind. Diese
Aussage verdeutlichen die folgenden beiden Diagramme:
Der zentral postierte Läufer e5 kontrolliert insgesamt 13 Felder; der am Brettrand (b1) und der in der Ecke (h1)
stehende Läufer müssen sich mit jeweils sieben begnügen. Je näher ein Läufer am Zentrum steht, desto mehr Felder kann
er potenziell besetzen; bei dem Läufer e3 sind es schon elf.
Bei dem als "kurzbeinig" verspotteten Springer fällt der Unterschied im Wirkungsgrad in den Bereichen Zentrum,
Brettrand und Ecke noch deutlicher aus.
Das auf e5 stehende stolze Riesenpferd kontrolliert das ganze "Windrad" f3, d3, c4, c6, d7, f7, g6 und g4, alles in
allem acht Felder, während der Rappe auf a6 sich mit vier (b8, c7, c5 und b4) begnügen muss, und dem Unglücksraben
auf a1 verbleiben nur mickrige zwei Felder zum Ausritt.
Diese Beispiele, die man sich gelegentlich vor Augen führen sollte, belegen ganz klar, dass die Binsenweisheit "in
der Mitte stehen Leichtfiguren generell besser" kein leeres Gerede ist. Doch die Regel von der Bedeutung der
zentralen Felder hat auch ihre Ausnahmen. In diesem und dem nächsten Beitrag zeigen wir an seltenen und weniger
bekannten Beispielen, wie Läufer und Springer, also die Leichtfiguren, von einem Eckfeld aus wirkungsvoll in das
Spielgeschehen eingreifen können. Auf den Springer kommen wir in der nächsten Folge zurück, hier sind Beispiele mit
dem Läufer in der Hauptrolle aufgeführt.
Wie im ersten Diagramm gesehen, hat ein Läufer in der Ecke immerhin eine ganze Diagonale vor sich, auch wenn diese
nicht immer frei ist. Wenn doch, kann er sehr gut mit der Dame, die ja ebenfalls diagonal ziehen kann,
zusammenwirken. Hierzu das nächste Beispiel, schon offensichtlich der Turnierpraxis entnommen, nur die Quelle ist
nicht gesichert.
Schwarz am Zug
1. …Lh1! Die Mattdrohung auf g2 zwingt den weißen König zur Flucht, die Überdeckung des gefährdeten Felds g2
mit 2. Sh4 führt nach 2. …g5 zum Figurenverlust, der Springer kann ja wegen der Mattdrohung nicht gut wegziehen.
2. Kf1 Dg2+ 3. Ke2 Df3+ 4. Kd2 Auch 4. Kf1 verliert: 4. …Dh3+ 5. Ke2 Lf3+ 6. Kd2 Dxf5.
4. …Dxf5 5. Txh1 Dd3+ 6. Kc1 Dxc3+ und Schwarz gewann.
Unser nächstes Beispiel stammt aus einer Partie, die 1914 in St. Petersburg gespielt wurde, einem der berühmtesten
Turniere der Schachgeschichte. Es sollte ermittelt werden, wer Anspruch auf einen Weltmeisterschaftskampf gegen den
damaligen Weltmeister Lasker anmelden konnte. Die FIDE gab es noch nicht (sie wurde erst 1924 gegründet) und
WM-Kämpfe wurden, vorausgesetzt die erforderlichen Geldmittel konnten aufgetrieben werden, privat organisiert. Dem
Weltmeister oblag es, die Herausforderung anzunehmen oder auch nicht.
In St. Petersburg nahm Lasker selbst teil, und er gewann das Turnier. Schließlich erhielt der Zweitplatzierte, der
Kubaner José Raoul Capablanca, 1921 die Gelegenheit zu einem WM-Match, die er auch nutzte. Die beiden Kontrahenten in
unserer Modelpartie spielten in der Vorrunde gegeneinander:
Nimzowitschindisch E 21
Ossip Bernstein
Aaron Nimzowitsch
1. d4 Sf6 2. Sf3 e6 3. c4 b6 4. Sc3 Lb7 5. e3 Lb4 6. Db3 De7 7. a3 Lxc3+ 8. Dxc3 d6 9. b4 Sbd7 10. Lb2 a5 11. Le2
axb4 12. axb4 Txa1+ 13. Lxa1 Schon landet der Läufer in einer Ecke, doch ihm steht noch eine glänzende Zukunft
bevor. 13. …0-0 14. 0-0 Se4 15. Dc2 f5 16. Sd2 Sxd2 17. Dxd2 Ta8 18. Lc3 De8 19. d5 e5 20. f4 Weiß möchte die
lange Diagonale freischaufeln, aber noch ist das Feld e5 in der Hand des Nachziehenden, der zunächst darauf achtet,
dass das auch so bleibt. 20. …Lc8 21. Db2 De7 22. fxe5 Sxe5 Das Schlagen mit dem Bauern kam nicht in Betracht,
da Weiß Txf5 spielen würde. 23. Ld4 Ld7 24. Ta1 Te8 25. Ta7 Dd8 26. Da1 Die schwarze Stellung wird in die
Zange genommen (a1-a8, a1-h8), das Verbindungsstück ist die Dame a1. 26. …f4 27. exf4 Sg6 28. Lf3 Sxf4 29. Lxg7 Dg5
30. Lh8! Auf g7 droht nun latent die Mattsetzung durch die Dame. Schwarz, der seinerseits über eine latente
Mattdrohung durch Springer und Dame auf g2 verfügt, ist jetzt an die Verteidigung des Feldes g7 gebunden. 30. …Sd3
Schwarz droht …De3+, gefolgt von einem Matt auf der Grundreihe. Weiß muss also seinem König "Luft" verschaffen
(deshalb nennt man auch einen Bauernzug vor der Rochadestellung ein "Luftloch") und nur für diesen Zweck wäre h2-h3
gut genug gewesen. Doch Weiß spielte besser 31. h4! denn wie wir wissen, darf die schwarze Dame die Kontrolle
über das Feld g7 nicht aufgeben und kann daher nicht auf h4 schlagen. Nun wird sie auch noch von dem Bauern angerempelt
und muss ziehen. 31. …Dg3 Der Nachziehende nimmt mit allen Kräften das Feld e1 ins Visier. 32. Ta8
Zwischen weißem Turm und schwarzem König steht jetzt nur der Turm e8, diese Fesselung verhindert, dass er auf e1
einsteigt. Möglich war 32. …Df2+ 33. Kh2 Dxh4+ 34. Kg1 Df2+ mit Remis durch Dauerschach, aber Schwarz wollte kein
Remis und spielte 32. …Lc8 Die Fesselung des Turms auf der achten Reihe ist aufgehoben, und Schwarz droht
wieder …Te1+. Also muss die e-Linie blockiert werden. 33. Le4
Nun verliert 33. …Txe4? wegen 34. Txc8+, der schwarze König darf wegen Df6 matt nicht nach f7 ziehen. Die weiße Dame
wird von dem in der Ecke steckenden Läufer perfekt unterstützt. 33. …Df2+ 34. Kh2 Dxh4+ 35. Kg1 Wie bereits
erwähnt, kann Schwarz mit dem Dauerschach auf den Feldern f2 und h4 remisieren, er hat sich aber höhere Ziele gesteckt.
35.…Se5 Unterbricht vorübergehend das Zusammenspiel zwischen Dame und Läufer und droht mit dem Figurengewinn auf e4.
36.Lxe5 Dxe4 Erzwungen, da 36. …dxe5 37. Lf5 den schwarzen Läufer kosten würde. 37. Lh8! Der Läufer mag
die Ecke! 37.…De3+ 38. Kh2 Df4+ 39. Kg1 Dg3 40. Lc3
Und jetzt wird der Läufer wieder zu Verteidigungszwecken eingesetzt, …Te1+ muss ja verhindert werden.
Eine freie Diagonale ist eben eine tolle Sache, das haben wir bei den früheren Trainingseinheiten auch schon
hervorgehoben. Das Besondere an diesem historischen Beispiel ist das Pendeln des Läufers - mal geschieht Lh8 mit
latenter Mattdrohung auf g7, mal Lc3 als eine Rettungsmaßnahme für das Feld e1.
Zurück zur Partie: 40. …De3+ 41. Kh1 Df4 42. Dd1 Dh6+ 43. Kg1 De3+ 44. Kh1 Dh6+ Nach 44. …Dxc3 45. Txc8 Txc8
46. Dg4+ Kf7 47. Dxc8 Dxc4 48. Df5+ Ke8 49. De6+ Kd8 50. Dg8+ Kd7 51. De6+ Kd8 52. Dg8+ endet die Partie ebenfalls mit
Dauerschach, so wie nach der Textfortsetzung: 45. Kg1 De3+ 46. Kh1 Dxc3 47. Txc8 Txc8 48. Dg4+ Kf7 49. Dxc8 Dxc4
50. Df5+ – remis
Zum Schluss noch eine schöne Studie, die - Sie ahnen es schon - mit einem Läufer in der Ecke zu tun hat.
Studie G. Rinck, 1920
Weiß am Zug gewinnt
1. Lc3+ Ke4 Die Züge 1. …Kd6 2. Td2+ und 1. …Ke6 2. Lg4+ kosten die Dame. 2. Lf3+ Ke3 Wieder das einzige
Feld, da nach 2. …Kd3 3. Td2+ und nach 2. …Kf4 3. Lc6+ die Dame flöten geht.
3. La8!! Der einzig Zug, der eine echte Mattdrohung (Tf3) beinhaltet, während etwa 3. Lg2 (oder Lh1) Dg4
4. Tf3+ Dxf3 5. Ld2+ Ke4 zum Remis führt. Bei einem Läuferzug nach a8 kann der schwarze König nicht nach e4 ausweichen.
3. …Dg4 4. Tf3+ Dxf3 5. Ld2+ Weiß gewinnt die Dame und setzt dann mit zwei Läufern matt.
Schachschule 64 als PDF
Teil 46 der Schachschule 64 kann
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als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärender Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
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