Unterschiedliche Materialkonstellationen:
Turm gegen Läufer
Eines der ersten Kriterien zur Stellungseinschätzung, die ein Anfänger lernt, ist die Werteskala der Figuren. Wir
erinnern uns: der Wert einer Leichtfigur (ein Springer oder ein Läufer) wird mit drei Bauerneinheiten gleichgesetzt,
ein Turm ist fünf und eine Dame ungefähr neun Bauerneinheiten wert.
So gesehen wäre es eigentlich egal, ob man gerade einen Springer oder einen Läufer hat, doch ganz so ist es nicht. Es
gibt Stellungen, in denen der Springer überlegen ist und solche, in denen der Läufer mehr leisten kann. Herzlich
wenig kann ein Läufer in dem folgenden Standardendspiel ausrichten:
Weiß kann sich auf den Kopf stellen, er kann den schwarzen König weder mattsetzen, noch kann
er ihn aus der Ecke vertreiben; bei Kh6 und bei Kg6 endet die Partie mit einem Patt.
Wir sehen hier den sogenannten "falschen Läufer"; das ist die Bezeichnung für einen Läufer, der auf der im Gewinnsinn
verkehrten Felderfarbe unterwegs ist. Verwendet wird der Begriff im Endspiel König, Läufer und Randbauer gegen König,
wenn der Läufer nicht das Umwandlungsfeld des Bauern kontrolliert. In diesem Fall ist es nicht möglich, den
gegnerischen König, wenn er sich dort erst einmal befindet, aus dieser Ecke des Bretts zu verdrängen. Trotz des
großen Materialvorteils bleibt die Partie also remis.
Das Motiv des falschen Läufers funktioniert jedoch nur bei Vorhandensein eines Randbauern, bei jedem anderen Bauern
ist das erwähnte Patt-Motiv nicht möglich und das Übergewicht einer Figur entscheidet mühelos.
Bei der Konstellation Springer plus Randbauer, dem Hauptthema dieser Trainingsfolge, kann es je nach Stellung
ebenfalls zu einem Unentschieden kommen.
Anzug beliebig – remis
Der schwarze König pendelt zwischen h8 und g7, und Weiß kann seinen Bauern nicht umwandeln:
der Springer müsste nach f7 oder g6 gelangen, ohne dabei die Deckung des Bauern aufzugeben – ein Ding der Unmöglichkeit!
Der französische Problemkomponist André Chéron, einer der berühmtesten Theoretiker des Endspiels, nannte diese
Stellung die "erste Hauptremisstellung" in Springerendspielen. Obwohl eine Seite einen Springer und einen Bauern mehr
besitzt, ist die Stellung nicht zu gewinnen, weil der gegnerische König das Eckfeld kontrolliert und sich dorthin
zurückziehen kann.
Der weiße Springer kann auch auf g5 oder f8 stehen, es ändert sich nichts. Sobald sich der weiße König nähert, um
seinen Bauern zu decken (Kg6) wird Schwarz patt gesetzt.
Wieso reicht der große Materialvorteil nicht zum Gewinn aus? Die Figur ist "unschuldig", sie steht aktiv, der zu weit
vorgerückte Bauer hat's versemmelt. Betrachten Sie das nachfolgende Beispiel und schon wird eine wichtige Faustregel
nachvollziebar:
Weiß am Zug – Gewinn
Mit dem Randbauern auf der sechsten Reihe (oder fünften, vierten usw.) kann Schwarz sich
nicht ins Patt retten, der König pendelt zwischen h8 und g8, bis Weiß ihm mit dem Springer den Zugang zu h8 verwehrt.
Der Anziehende darf seinen Randbauern nicht vorziehen, dies ergäbe nach …Kg7 wieder die Remisstellung des zweiten
Diagramms, er kann aber umgruppieren und eine Standard-Gewinnstellung erreichen: 1. Sg4 Auch ein anderer Anfangszug
ist möglich, wichtig ist allein, dass das Ziel - das Feld f7 - erreicht wird. …Kh7 2. Kg5 Kh8 Keinen Unterschied
macht 2. …Kg8 wegen 3. Kg6 Kh8 4. Se5 Kg8 5. h7+ Kf8 (5. …Kh8 6. Sf7 matt) 6. h8D+. 3. Kg6 Kg8 4. Se5
Wegen der vorhandenen Möglichkeit Sf7+ wird sich der schwarze König nicht in die Ecke retten können. Dies ist die
Standardgewinnstellung in dem Endspiel dieses Typus. Weiß gewinnt nach 4. …Kf8 5. h7 oder nach 4. …Kh8 5. Sf7+ Der
König wird aus der Ecke vertrieben, damit nach 5. …Kg8 der Bauer nachsetzen kann: 6. h7+ Kf8 7. h8D+ Ke7
8. Dd8+ Ke6 9. Dd6 matt.
Faustregel: In solchen Endspielen nicht zu früh den Bauern auf die siebte Reihe vorschieben!
Im folgenden Beispiel ist die Lage genau anders herum:
I. Weiß am Zug – remis
In dieser Situation, nach Chéron die "zweite Hauptremisstellung", kann Weiß am Zug nicht gewinnen. Zunächst erscheint
ein Remis unwahrscheinlich, Weiß hat ja eine Figur und einen Bauer mehr und in der Ecke steht der eigene und nicht
etwa der gegnerische König, also scheiden Patt-Motive aus. Doch nach einer beliebigen Annäherung, etwa 1. Sb3 Kf7
2.Sd4 Kf8 3. Se6+ Kf7 4. Sg5+ Kf8 kommen erste Zweifel auf, die der Gewissheit weichen, ein Sieg ist nicht möglich.
Weiß ist nicht in der Lage, den Springer so zu führen, dass er im entscheidenden Moment dem schwarzen König den
Zutritt zu dem anderen Feld verwehrt (f7, wenn der König auf f8 steht oder vice versa). Kurz gesagt: Zieht in dieser
konkreten Situation der König der schwächeren Seite auf ein Feld der Farbe, auf der der Springer steht, ist die
Stellung remis.
II.Schwarz am Zug – Weiß gewinnt
Doch sollte in der obigen Diagrammstellung Schwarz am Zug sein, so gewinnt Weiß. Hier kann der herbeieilende Springer
im günstigen Moment dem gegnerischen König den Zugang zu dem Feld f7 verwehren, so dass der den weißen König aus der
Ecke herauslassen muss: 1. …Kf7 2. Sb3 Kf8 3. Sc5 Kf7 4. Se4 Kf8 5. Sg5
Das ist der Unterschied. Jetzt ist Schwarz am Zug, sein König kann das Feld f7 nicht betreten, er muss auf ein
anderes Feld ziehen und den gegnerischen König aus dem "Käfig" herauslassen: 5. …Ke7 6. Kg7 und Weiß bringt seinen
Bauern durch.
Festung
Die schwächere Seite kann sich in solchen Endspielen nur auf drei Arten retten: Den König in der Ecke verstecken und hoffen, dass der Gegner den Bauern zu weit vorschiebt
Den gegnerischen König in der Ecke abklemmen, in bestimmten Stellung reicht dies aus
Das Motiv der Festung anwenden
Als Festung werden Stellungen bezeichnet, in denen die Steine der einen Seite die Stellung der anderen Seite nicht
durchbrechen können. Da gibt es viele Versionen dieses Motivs mit Beteiligung unterschiedlicher Figuren. In dem hier
behandelten Standardendspiel kommt es oft zu einem erfolgreichen "Festungsbau" nach dem folgenden Muster:
Die stärkere Seite kann nicht gewinnen, weil der schwarze König nichts ins Freie hinaus
gejagt werden kann.
Für Rettung sorgt wieder das Patt-Motiv. Der schwarze König wird sich entweder in der Ecke gemütlich einrichten und
kann dort nicht Matt gesetzt werden, höchstens ein Patt ist drin.
Etwa nach 1. Sf6 Kb8 2. Sd7+ Ka8, und nun muss der Springer wieder zurück, denn nach einem Zug des weißen Königs
ergibt sich ein Patt.
Auch mit 1. Sc7 ist dem Anziehenden nicht geholfen 1. …Kb8 2. Kd6 (2. Kd7 patt) 2. …Kc8, und Weiß kommt nicht
weiter.
Erwähnenswert ist noch der kleine Trick 1. Sb6+ mit dem Weiß auf den Riesenfehler 1. …axb6?? hofft, darauf gewinnt 2.
a7. Aber 1. …Kb8 erledigt auch dieses Problem.
Zum Schluss noch eine Sonderfall. Die Stellung erinnert stark an die Positionen in den einleitenden Beispielen (vgl.
Diagramm Nr. 2 und 3), jedoch ist noch ein schwarzer Bauer vorhanden, was im Prinzip dem Verteidiger dienlich ist.
Andererseits aber hielt sich Weiß an die erwähnte Faustregel und unterließ es tunlichst, seinen Randbauern auf die
vorletzte Reihe zu stellen; das ist wiederum ein Vorteil für die stärkere Seite.
Studie von N. Grigorjew, 1933
Weiß am Zug gewinnt
Der schwarze König muss den h-Bauern aufhalten und gerät dabei in ein Mattnetz: 1. Sa2 Kf8 Auf 1. …Kg8 2. Kg6 Kh8 3.
Sb4 a2 gewinnt Weiß mit der bereits bekannten Methode: 4. Sxa2 Kg8 5. Sb4 Kh8 6. Sc6 Kg8 7. Sd8 Kh8 8. Sf7+ Kg8 9.
h7+. 2. Kf6 Kg8 3. Kg6 Kh8 4. Sb4 Kg8 Oder 4. …a2 5. Sxa2 Kg8 6. Sb4 Kh8 7. Sc6 Kg8 8. Sd8 Kh8 9. Sf7+ Kg8 10. h7+.
5. h7+ Kh8 6. Sc6 a2 7. Se5 a1D 8. Sf7 matt.
Schachschule 64 als PDF
Teil 36 der Schachschule 64 kann
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als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärende Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
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