Unterschiedliche Materialkonstellationen:
Ein Turm kämpft gegen die Dame (Teil 2)
In den letzten drei Folgen haben wir uns mit Spielsituationen beschäftigt, in denen das Material nicht ganz
gleichmäßig verteilt war. Speziell die beiden Folgen 32 und 33 waren dem Thema "Das positionelle Qualitätsopfer"
gewidmet, in der letzten Folge warfen wir einen Blick auf die Spielsituation Dame kämpft gegen Turm und Bauer und
mussten feststellen, dass der Kampf trotz des - rein rechnerisch gesehen - beträchtlichen materiellen
Ungleichgewichts keineswegs entschieden ist. Der (neben Material und Zeit) dritte große Faktor im Schachspiel, der
Raum, wird in Stellungen folgender Art in die Waagschale geworfen:
Mit seinen Wirkungslinien (hier die sechste Reihe und die e-Linie) bildet ein Turm einen
hypothetischen, für den gegnerischen König unüberwindlichen „Zaun“.
Dies ist eine etwas andere Stellung als die in der letzten Folge auf Seite 29 vorgestellte, aber die Lage ist gleich
einzuschätzen. Der Materialnachteil von drei Bauerneinheiten wird durch den Faktor Raum voll aufgewogen, die Partie
wird remis enden.
Welcher Raum? Gemeint ist die "Mauer", die der Turm durch die Kontrolle der sechsten Reihe und der e-Linie bildet.
Der König der stärkeren Seite ist damit sozusagen weggesperrt, ihm mangelt es an Raum um der Dame unterstützend zur
Seite zu stehen. Und die Dame allein, das wissen schon, kann nichts ausrichten, sondern nur unergiebige Schachs
bieten (z. B. 1. Dd8+ Kg7 2. Dg5+ Kh7 3. Dh5+ Kg7); das alles wurde in der letzten Ausgabe ausführlich besprochen.
In dieser Folge wird eine andere Version der erfolgreichen Aufstellung von Turm und Bauer gegen die Dame erörtert.
Dabei wird deutlich, dass die schwächere Seite oft bessere Aussichten besitzt, als die flüchtige Stellungsbetrachtung
vermuten lässt.
Trotz des beträchtlichen Materialvorteils kann Schwarz nicht gewinnen, weil eine seiner
Figuren stets das Feld d8 blockieren und damit die Bauernumwandlung verhindern muss.
Eine der schwarzen Figuren ist an die Verteidigung des Punktes d8 gebunden, die andere Figur kann alleine nichts
ausrichten. Die einzige denkbare Gewinnmöglichkeit besteht in einem Marsch des schwarzen Königs nach e3, um dann mit
…Dh4+ und …Df2 mattzusetzen. Nur wird Weiß natürlich den Teufel tun, den gegnerischen König ungehindert bis nach e3
laufen zu lassen. Er wird vielmehr seinen König nach e2 stellen, um dann nur noch mit seinem Turm auf den Feldern d2
und d1 zu pendeln. Die schwarze Dame kann viele Schachs bieten, jedoch ohne nachhaltige Wirkung.
In der vorliegenden Stellung ist es egal, ob Weiß oder Schwarz am Zug ist, die Stellungseinschätzung und das Ergebnis
bleiben gleich. Wenn Schwarz am Zug ist, kann er zur Verteidigung des Feldes d8 den König dorthin befördern: 1. …Da5+
2. Ke2 Kd8
Hier muss Weiß nicht viel tun, sondern nur zusehen, dass seine Figuren dicht beieinander
bleiben, so deckt der König den Turm und dieser wiederum den Bauern.
Zwar hat sich die Stellung verändert, aber nicht der Ausgang der Partie. Nun muss der König auf d8 ausharren und
von Ferne beobachten, wie sich seine Gattin vergeblich abmüht, sprich die Dame kann viele Schachs bieten, aber
damit nichts erreichen. Die Dame allein kann ja nicht mattsetzen.
Anhand dieses Modelbeispiels lässt sich die Grundidee der erfolgreichen Verteidigung verdeutlichen. In der Praxis
ist das Brett etwas stärker "bevölkert", es stehen noch ein paar Bauern oder sogar Figuren da, aber das besagte
Motiv kann einem Schachspieler - dem Leuchtturm gleich - schon von Ferne ein Zeichen geben, wo Rettung winkt.
Das folgende Fragment stammt aus der Partie Bron - Ordel, gespielt in Charlow 1936. Der Sieger, Wladimir Akimowitsch
Bron (1909-1985), machte sich später in zweierlei Hinsicht weltweit einen Namen: als führender Wissenschaftler bei
der Entwicklung feuerbeständiger Materialien und als Problemkomponist im Schach.
Weiß am Zug
Angesichts der Mattdrohung …Th1 matt rechnete der Schwarzspieler nur mit 1. f4 Th1+ 2. Kf2 Dc5+ 3. De3 Dxe3+ 4. Txe3
Td1, und sobald Schwarz den Bauern d6 abgeholt hat, wird die Partie wohl remis enden.
Die Lösung in der Partie ist wesentlich eleganter; Weiß sichert sich mit dem zuvor besprochenen Motiv die
Punktteilung und hält sich noch eine Option offen. Dies meinte Meister Bron, als er etwas knapp kommentierte: "Remis
in der Tasche und den Punkt im Blick."
Schwarz hätte nun 6. …Da5! spielen sollen, was das siegreiche Manöver Te1+ nebst Te8 unterbindet. In diesem Fall
hätte sich Bron mit Remis begnügen müssen, etwa so: 7. Td3 (Ja nicht 7. d8D+? Dxd8 8. Txd8 Kxd8 nebst …Kc7 und
…Kxc6.) 7. …Da1+ 8. Kh2 De5+ 9. g3 Kd8 10. Te3 Dh5+ 11. Kg1 (11. Kg2? Dd5+ gefolgt von …Dxc6.) 11. …Dd1+ 12. Kh2 Dh5+
mit der altbekannten "Remisschaukel".
In der Partie geschah jedoch 6. …f5? 7. Te1+ Kf7 und hier hätte Weiß mit 8. Te8 Dxe8 9.
dxe8D+ Kxe8 10. Kh2 Kd8 11. Kg3 g5 12. f4 g4 13. Kh4 nebst Kg5 gewinnen können. Doch der Anziehende wählte einen
anderen Weg, vielleicht einen etwas umständlichen, aber in Anbetracht der Schlusskombination gewiss einen viel
ansprechenderen: 8. Tc1 droht c7 8. …Dc7
Um die Schachgebote auf f4 zu verhindern, spielte Weiß (siehe vorletztes Diagramm) 9. g3! und gewann bald: 9. …f4 10. Td1 Ke7 11. Te1+ Kf7
Vielleicht sah der Nachziehende hier einen Silberstreif am Horizont, denn nach 12. Te8! Dxc6 kann auf 13. d8D einfach
…Dxe8 folgen. Doch die witzige Bauernumwandlung in einen Springer 13. d8S+! beendete den Kampf; nach …Kxe8 14. Sxc6
behält Weiß eine Figur mehr. 1:0
Die materiell schwächere Seite war in den vorausgegangenen Beispielen deshalb erfolgreich, weil der Freibauer so weit
vorgerückt war. Doch was ist, wenn der Bauer nicht so weit vorn, sagen wir mal zwei Felder zurück steht?
Hier benötigt der Bauer nicht einen Zug, sondern deren drei bis zum Umwandlungsfeld. Und die
Zeit, die es kostet den Raum zu überbrücken, kann der gegnerische König nutzen, um loszurennen und dem gegnerischen
Monarchen auf den Pelz zu rücken.
Hier betreten die zwei anderen Grundprinzipien des Schachspiels, Zeit und Raum, die Bühne und verändern nachhaltig
die Lage. 1. …Ke5! Ja, der gegnerische Freibauer wird von der Leine gelassen, 2. d6, aber in der Zwischenzeit rückt
der König in den frei gewordenen Raum vor: 2. …Ke4, und das Gespann aus Dame und König baut blitzschnell ein Mattbild
auf:
a) Umgehend verliert 3. d7 De3+ 4. Kf1 Kf3, drohend …Df2 matt.
b) 3. Td2 verhindert war …De3+, darauf käme Te2 mit Damengewinn, aber nach 3. …Ke3 4. Te2+ (4. d7 Dc1+ 5. Td1 Dc2
kennen wir bereits.) 4. …Kf3 5. Kd1 Dg1+ wird mit dem folgenden Schachgebot auf d4 der weiße Bauer abgefischt, mit
baldiger Entscheidung.
Die Beispiele in dieser Folge demonstrieren vorzüglich die Wechselwirkung der drei Grundprinzipien Material, Zeit und
Raum. Die Materialverteilung war in beiden Fällen identisch. Bei einem weit vorgerückten Bauern hatte der Angreifer
weniger Zeit, seinen König zur Unterstützung zu holen, bei einem zurückgebliebenen Freibauern hatte die stärkere
Seite dagegen Zeit genug, um die Partie zu gewinnen.
Schachschule 64 als PDF
Teil 34 der Schachschule 64 kann
hier
als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärende Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
Jahrgangsschuber
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