Unterschiedliche Materialkonstellationen: Ein Turm kämpft gegen die Dame
Bereits in mehreren Folgen dieser Trainingsserie warfen wir einen Blick auf Spielsituationen, in denen das Material
nicht ganz gleichmäßig verteilt war. Speziell die beiden letzten Folgen der Schachschule waren dem Thema "Das
positionelle Qualitätsopfer" gewidmet. Da tauschte die eine Seite ihren Turm gegen eine Leichtfigur ein (also wurde
die sogenannte Qualität geopfert) und er erhielt dafür einen Ersatz (Kompensation) in Form von positionellen
Faktoren, zum Beispiel eine sehr gut postierte eigene Figur zuzüglich weiterer Annehmlichkeiten wie etwa eine
zuverlässig gesicherte eigene Königsstellung oder eine bessere Bauernstellung und und und … alles, was einem das
Spiel erleichtert oder dem Gegner erschwert, fließt da mit ein.
Eine andere Materialkonstellation entsteht, wenn eine Seite ihre Dame opfert (oder verliert). Die Dame ist die
stärkste Figur, die noch geopfert werden kann (einen König kann man ja nicht opfern; dies liefe den Grundregeln des
Schachspiels zuwider), sie steht auf der Werteskala der Figuren ganz oben, sie ist neun Bauerneinheiten wert.
Natürlich kann man niemals eine Dame adäquat gegen (neun) Bauern abtauschen, schließlich befinden sich auf dem
Schachbrett selbst in der Grundstellung nur deren acht. Der häufigste Abtausch der Dame gegen eine andersartige Figur
ist der gegen zwei Türme oder gegen einen Turm und eine Leichtfigur, ggf. kommt noch ein Bauer dazu. Bei diesen
Konstellationen, auf die wir zu gegebener Zeit noch eingehen werden, ist die reine Materialbilanz nahezu
ausgeglichen.
Doch im Schach ist das Material, man kann es nicht oft genug wiederholen, nicht alles, die Faktoren Zeit und Raum
kommen noch dazu, und zusammen ergibt sich eine starke Wechselwirkung. Besonders gut darstellen lässt sich dieser
Sachverhalt in Endspielen, dort sind die Stellungsbilder oft übersichtlicher.
In dieser Folge schauen wir uns den Kampf von Turm gegen die Dame an. Der Turm allein kann gegen eine Dame in der
Regel nicht bestehen, aber jede Regel hat auch ihre Ausnahmen.
Hier rettet sich Schwarz mit Schachgeboten, weil der weiße König wegen …Te7 nicht gut die
e-Linie überqueren kann.
Studie Domenico Ponziani, 1792
Schwarz am Zug remisiert
Zwar hat hier die Turmseite keine Mitstreiter (z. B. einen Bauern) an ihrer Seite, dennoch kann sie sich behaupten.
Aufgezeigt hat den Rettungsweg der italienische Schachmeister Ponziani bereits vor mehr als 200 Jahren:
1. …Th7+ 2. Kg2 Tg7+ 3. Kf3 Tf7+ Der weiße König kann hier und in der Folge nicht gut die e-Linie betreten, es würde
…Te7 folgen, wonach sich die weiße Dame verabschiedet. 4. Kg4 Tg7+ 5. Kf5 Tf7+ 6. Kg6 Tg7+
Scheinbar hat sich gar nichts getan, aber dieses Mal ist Schwarz am Zug, und das ändert
alles.
Auf den ersten Blick gewinnt nun 7. Kf6, aber der taktische Trick 7. …Tg6+! 8. Kxg6 patt rettet den Nachziehenden.
Weiß kann natürlich noch 7. Kh6 versuchen, dann aber rettet sich Schwarz mit 7. …Th7+! Nach 8. Kxh7
ergibt sich ein anderes Patt-Bild, ebenso wie nach 8. Kg6 Th6+. Und falls Weiß 8. Kg5 zieht, geht es wieder los mit
den Schachgeboten 8 …Tg7+ usw. wie vor, also remis
Wie gesagt, diese Stellung bzw. dieser Rettungsweg ist eine Ausnahme, die man aber einmal gesehen haben muss, um
später in einer Partie eine mögliche Rettung nicht zu verpassen. Ansonsten gewinnt die Dame gegen einen Turm immer,
wobei der Gewinnweg nach dem folgenden Schema abläuft.
Lehrbeispiel André Philidor, 1777
Anzug beliebig, Weiß gewinnt
Hier konkret: Weiß am Zug
Das Hauptproblem des Verteidigers besteht darin, dass er seine Schäfchen nicht zusammenhalten, sprich den König und
den Turm nicht dauerhaft in einem engen Kontakt halten kann. Und wenn sich dieses Gespann trennt, wird der Turm nach
einigen Schachgeboten abgeholt.
Zwar kann Weiß, also hier die stärkere Seite den gegnerischen Turm nicht direkt erobern, er wird ja vom König
gedeckt. Weiß kann auch nicht einfach sagen: Ich passe, zieh du mal... Die Seite mit der Dame muss also eine
Situation schaffen, in der in dieser Stellung der Gegner am Zug ist. Dann trennen sich König und Turm, und die Dinge
nehmen ihren Lauf: 1. De5+ Ka8 1. …Kc8 geht nicht gut wegen 2. De8 matt; 1. …Ka7 2. Da1+ Kb8 führt zur gleichen
Stellung wie weiter besprochen. 2. Da1+ Kb8 2. …Ta7 scheitert an 3. Dh8 matt 3. Da5!
Scheinbar hat sich gar nichts getan, aber dieses Mal ist Schwarz am Zug, und das ändert
alles.
Da nun der Nachziehende am Zug ist, kann das schwarze Figuren-Duo den Kontakt nicht mehr aufrechterhalten. Das
Hauptziel des Weißen, die Trennung der schwarzen Figuren, ist hiermit erreicht. Der König kann nicht gut nach c8
ziehen, danach käme Da6 (Fesselung) mit Turmgewinn, und …Ta7 führt zu Dd8 matt. Also zieht der Turm, doch wo auch
immer er landet, er wird bald erwischt:
Gut, eine Dame ist für einen Turm zu stark. Wie sieht es aus, wenn dem Turm ein oder zwei Bauern zur Seite stehen?
Wie immer im Schach, kommt es auf die konkrete Stellung an. Ein Wissen um die typischen Motive erleichtert jedoch die
richtige Stellungseinschätzung und die Wahl der Züge ungemein. Wir beginnen mit dem
Motiv der Festung
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Anzug beliebig, remis
Der Turm auf g4 erzeugt gleich zwei Sperren, eine auf der vierten Reihe, die andere auf der
g-Linie. Diese sind für den schwarzen König unpassierbar, also kann er auch nicht der Dame beistehen.
Da der schwarze König abgeschnitten ist, bleibt nur noch die Dame, aber sie kann alleine nichts ausrichten. Sie kann
natürlich jede Menge Schachgebote erzeugen, aber keines davon setzt matt. Weiß muss also darauf achten, dass er den
Bauern hält. Daher bleibt der König stets an dem Bauern h3 dran, nach einem Schachgebot auf der zweiten Reihe zieht
er nach g3, nach einem späteren auf der dritten Reihe wiederum zurück nach g2.
Das gezeigte Motiv funktioniert sogar wenn die materiell stärkere Seite auch über einen Bauern verfügt, wie das
nächste Beispiel zeigt.
Weiß am Zug remisiert
In der Partie Rogulj-Andric (Jugoslawien 1968) unterlief dem Anziehenden der grobe Fehler Tf3?; Schwarz drückte dann
mit …a3+ seinen Bauern nach vorn und verhinderte die Remisstellung nach dem Muster des letzten Beispiels; dies erwies
sich in der nicht mehr interessanten Partie als entscheidend.
Nach der Partie fanden die Gegner in der Analyse den rechten Weg 1. Ta3! und Schwarz kann sich auf den Kopf stellen,
einen Gewinn kann er nicht erzwingen, z. B. 1. …Df6+ 2. Ka2 Dh6 droht …Dc1 3. Kb2 Dh1 4. Td3 Der Turm
muss stets auf ein geschütztes Feld gestellt werden, aber Weiß hat ja zwei: a3 und d3. Das reicht. 4. …Da8 5. Ta3!
Da7 Hofft auf 6.Td3? a3+! 6. Ka2
Weiß schützt abwechselnd mit dem König und dem Bauern den Turm, der zwischen den Feldern a3
und d3 pendelt und dabei immer gedeckt bleibt.
Die schwarzen Figuren können nicht in die weiße Stellung eindringen oder die weißen Figuren umgehen, die Stellung ist
remis.
Soweit der erste Blick auf das Thema "Festung", eines der faszinierendsten Motive im Schach überhaupt. In der
nächsten Folge wird diese Thematik vertieft.
Schachschule 64 als PDF
Teil 33 der Schachschule 64 ist in Ausgabe Schach-Magazin 64, Dezember 2012, erschienen und kann
hier
als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärende Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
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