Der Anzugsvorteil
Vorsicht bei symmetrischen Eröffnungen!
Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, weiß der Volksmund. Kann man das so einfach auf Schach übertragen? Kann man von einem
Anzugsvorteil des Weißen sprechen, und wenn ja, wie groß ist der eigentlich?
Diese Frage stellt sich naturgemäß jedem Anfänger, aber auch erfahrene Spieler sind sich da nur über den ersten Teil
der These einig. Ja, es gibt einen Anzugsvorteil, zum einen kann Weiß mit seinem ersten Zug die Eröffnung wenigstens
etwas nach eigenem Gusto gestalten, zum anderen erinnert sich jeder an die Ergebnisse seiner Partien und da überwiegt
der Eindruck, mit den weißen Steinen häufiger gewonnen zu haben als mit den schwarzen. Nur - wie groß ist der
Anzugsvorteil wirklich, in Zahlen ausgedrückt?
Der Richtwert 55:45
Schon im vorletzten Jahrhundert wurden erste Versuche unternommen, Partieergebnisse statistisch auszuwerten - eine
mühsame Angelegenheit, mussten doch einige hundert oder gar einige tausend Ergebnisse "per Hand" erfasst und
ausgewertet werden. Erst mit dem Aufkommen der Computer und erst recht der Schachdatenbanken war die Bahn für eine
aussagekräftigere Untersuchung frei. In heutigen Schachdatenbanken wie ChessBase werden mehrere Millionen Partien mit
allen relevanten Informationen (Name/Vorname von Weiß und Schwarz, Herkunft der Spieler, die persönliche
Leistungszahl jedes Spielers, Art des Turniers, Spielort, welche Eröffnung, Anzahl der Züge, natürlich auch das
Ergebnis und manches mehr) gespeichert, und für die Auswertung stehen mächtige Funktionen zur Verfügung. Mit dieser
Ausrüstung ging zum Beispiel der Betreiber der Internetseite www.inside-chess.de der Frage nach, wie viel der
Anzugsvorteil eigentlich wert ist. Er ließ eigener Aussage nach ca. 23 300 Partien untersuchen, bei denen die Gegner
eine annähernd gleiche Spielstärke (Elozahl von 2500-2550) aufwiesen, und der Rechner meldete ein Ergebnis von 54,4 %
zugunsten von Weiß.
Der griffige Richtwert von 55:45 dürfte wohl der Wirklichkeit sehr nahe kommen. "Gefühlt" wurde er schon früher und
deshalb kamen schon vor einem Jahrhundert doppelrundige Turniere in Mode, bei denen jeder gegen denselben Gegner
einmal mit Weiß und einmal mit Schwarz spielt. Dies liquidiert den Anzugsvorteil, kann bei entsprechender
Teilnehmerzahl allerdings zu sehr lange dauernden Veranstaltungen führen.
Wir können wohl ruhigen Gewissens davon ausgehen, dass es einen Anzugsvorteil gibt. Warum (bzw. worin) dieser Vorteil
besteht, das hat noch niemand schlüssig und erschöpfend beantworten können. Von alten, erfahrenen Trainern wird
manchmal das Argument angeführt, der anziehende Spieler könne die Reaktion seines Gegenübers mit in sein Kalkül
einbeziehen. Weiß man zum Beispiel, dass der Gegner lieber angreift und positionellem "Geschiebe" eher aus dem Weg
geht, schaut man sich bei der Vorbereitung vielleicht Eröffnungen an, in denen es früh zum Damenabtausch kommt. Der
Gegner fühlt sich unbehaglich, und das ist doch schon einmal ein Vorteil.
Die weiße Erfolgsquote ist jedoch nicht so groß, als dass man mit Schwarz verzweifeln müsste. Wenn man nur etwas
besser spielt (oder besser vorbereitet ist) als der Gegner, verschwindet der besagte Anzugsvorteil schnell.
Vorsicht, Glatteis!
Somit stellt sich die Frage, kann ich durch die Wahl der Eröffnung bzw. eines Stellungstyps die "schwarzen Aktien"
ebenfalls pushen? Kann ich nicht quasi en passant den Anzugsvorteil mitnehmen, indem ich die Züge meines Gegners
kopiere? Ist die Stellung im Gleichgewicht, wenn die schwarzen Steine ein Spiegelbild der weißen darstellen, wenn
Raum, Zeit und Material hüben wie drüben gleich zu sein scheinen? So einfach ist es leider nicht.
Sicher ist, dass in symmetrischen Eröffnungen oft Gefahren lauern, die unerfahrene Schachspieler schnell in
Bedrängnis bringen. Fangen wir mit einem konkreten Beispiel an:
Russische Verteidigung C421. e4 e5 Nun, der erste Schritt Richtung Symmetrie ist getan, aber wir wollen es nicht übertreiben… Beide Seiten
haben einen Fuß ins Zentrum gestellt (Raum), damit die Bahnen für Dame und den Läufer geöffnet, somit etwas für die
(bald folgende) Figurenentwicklung getan (Zeit) und schließlich auch kein Material eingestellt. 2. Sf3 In früheren
Folgen haben wir uns mit Stellungen beschäftigt, die nach dem nahe liegenden Zug 2. …Sc6 entstehen. Diesmal wollen
wir uns die sogenannte Russische Verteidigung ansehen, charakterisiert durch den Zug 2. …Sf6
Mit 2. …Sc6 deckt Schwarz seinen vom Springer f3 angegriffenen Bauern e5 und hat ein Auge auf die Felder d4, b4, a5
und e7. Dahingegen wird mit dem die Symmetrie wahrenden Zug …Sf6 der Bauer e5 seinem Schicksal überlassen, Schwarz
greift dafür seinerseits den Bauern e4 an.
Weiß hat nun die Wahl: er kann z. B. mit 3. Sc3 den Bauern e4 schützen und dabei eine weitere Figur entwickeln, er
kann aber auch auf seinen Anzugsvorteil setzen und sich auf ein frühes Handgemenge im Zentrum einlassen. 3. Sxe5 In
der Turnierpraxis, unter erfahrenen Spielern, folgt danach fast ausschließlich 3. …d6 4. Sf3 Sxe4. Weniger erfahrene
Spieler kommen oft auf die Idee, einfach die gegnerischen Züge zu kopieren bzw. gleich den Bauern zurückzuholen und
spielen 3. …Sxe4?! Hier kann Weiß seinen Anzugsvorteil musterhaft ausnutzen: 4. De2 Die Dame zieht auf die offene
e-Linie und stellt die erste ernsthafte Drohung auf.
Die Ausgangslage: Der Springer e4 ist angegriffen. Soll Schwarz ihn wegziehen (4. …Sf6)?
Ihn decken (4. …d5)? Oder seinerseits den Springer e5 angreifen?
Zieht der angegriffene Springer e4, z. B. 4…Sf6??, so vollendet sich die Eröffnungskatastrophe: nach dem Abzugsschach
5. Sc6+ geht die schwarze Dame (und damit wohl schon die Partie) verloren.
Natürlich muss Schwarz nicht gleich so schmerzhaft auf die Nase fallen, dennoch, nach dem verfrühten Schlagen
3.…Sxe4? kann die Stellung nur notdürftig repariert werden.
Gesehen wurden schon Partien, in denen 4. …d5 geschah,
mit der Folge 5. d3 De7 (5. …Sf6?? 6. Sc6+ kennen wir bereits) 6. dxe4 Dxe5 7. exd5
Auch das Decken des Springers mit 4. …d5 bietet keine Lösung. Im Endeffekt hat Schwarz einen
Bauern eingebüßt.
und da wegen des auf e8 stehenden Königs die Dame nicht nach d5 weichen kann, muss sie wegziehen oder auf e2
abgetauscht werden, in beiden Fällen behält Weiß auf d5 einen Mehrbauern.
Zu einem sehr ähnlichen Ergebnis kommt es im Falle von 4. …De7 5. Dxe4 d6 6. d4 dxe5 7. dxe5. Auch hier hat Weiß
einen Bauern gewonnen. Die Versuche, diesen zurückzuholen, bleiben bei gutem Spiel von Weiß fruchtlos. Ein Beispiel
7. …Sc6 8. Lb5 Ld7 9. Sc3
Ja nicht 9. …Dxe5??, denn dann beraubt Weiß mit 10. Lxc6 die Dame e5 ihrer Deckung und gewinnt eine Figur
9…0-0-0, und nun kann Weiß mit 10. Lf4 den Bauern sichern und seinen Materialvorteil behaupten. Dies fällt schon ins
Gewicht. Wenn wir schon bei den Statistiken sind: diese Stellung kam bei registrierten Turnieren in 33 Partien vor
und die weiße Punktausbeute betrug 66,7 %. Dies ist deutlich über den gängigen Wert von 55, ergo ist aus der Sicht
von Schwarz etwas schief gelaufen. Es war der kaum empfehlenswerte Zug 3. …Sxe4?!, mit dem sich Schwarz auf das
gefährliche Terrain der symmetrischen Eröffnungen begab.
Muss man als Schwarzspieler also einen symmetrischen Aufbau meiden wie der Teufel das Weihwasser? Das nun auch nicht,
aber man muss schon besonders auf der Hut sein. In der nächsten Folge schauen wir uns andere Beispiele an.
Schachschule 64 als PDF
Teil 15 der Schachschule 64 ist in Ausgabe Schach-Magazin 64, August 2011, erschienen und kann
hier
als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärende Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
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