„Der Bauer ist die Seele des Spiels“ – und gibt die Marschrichtung vor
Beispiel: die Bauernkette in der Französischen Verteidigung
Der Beginn der modernen, von strategischen Grundsätzen geprägten Schachpartie wird Mitte des 18. Jahrhunderts
datiert. In dieser Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs tat sich auch auf dem Schachbrett einiges: neue Erkenntnisse
wurden gewonnen und Gesetzmäßigkeiten formuliert, die die Bedeutung der Bauernstellung für den Verlauf der
Schachpartie beschreiben. Heute wissen wir, dass Bauernstrukturen die Marschrichtung entscheidend vorgeben; vor rund
zweieinhalb Jahrhunderten war dies noch Neuland.
Der Satz, im Schach spiegele sich die Gesellschaft wider, wird zwar sehr strapaziert, aber die Aufwertung der
niederwertigen Steine - also der Bauern- ging tatsächlich mit dem Zeitgeist einher bzw. wurde von ihm beeinflusst. In
früheren Jahrhunderten, in denen Schach meist ausschließlich vom Adel und Klerus gespielt wurde, passte die
Wertigkeit der Schachfiguren zu dem Weltbild jener Zeit, der König war halt alles und die Figuren bedeutend. Den
Bauern wurde hingegen wenig Achtung entgegen gebracht und sie wurden leichtfertig geopfert.
Am Vorabend der Französischen Revolution änderte sich manche Wertschätzung, es wurde darüber diskutiert, inwieweit
die Bauern das Fundament der Gesellschaft bildeten und deren Existenzmittel erarbeiteten, daher also auch nicht
weiterhin missachtet werden dürften. Zwar gibt es im Französischen für Bauer als Landwirt (paysan) und für Bauer als
ein Stein im Schach (pion) unterschiedliche Worte, aber der Schachmeister und Musiker in Personalunion André Philidor
sah gewisse Parallelen- hier das bislang wenig geschätzte arbeitende Volk, da die unterschätzten zahlreichen
niederwertigen Steine auf dem Schachbrett - und etikettierte seine Entdeckungen beim Erforschen des Schachspiels
herausfordernd mit der Parole "Der Bauer ist die Seele des Spiels". In der Tat sind die Bauern das Gerüst für die
meisten strategischen Pläne. Selbst einzelne Bauern können das Spiel fast zwingend in bestimmte Bahnen lenken. So ist
zum Beispiel der Freibauer (alle Definitionen nach Meyers Schachlexikon) ein Bauer, den kein gegnerischer Bauer mehr
blockieren oder schlagen kann. Die Folge ist, dass nur "höherstehende" Figuren seine Umwandlung verhindern können,
was zu einer ungünstigen Bindung von Kräften führen kann. Vor allem im Endspiel kann ein Freibauer zum entscheidenden
Faktor werden.
Der Freibauer auf b4 strebt zum Umwandlungsfeld b8, kein gegnerischer Bauer kann ihm
das verwehren. Will Schwarz ihn aufhalten, muss er eine oder mehrere Figuren dorthin delegieren.
Ambivalenter ist die Bewertung eines Einzel- oder isolierten Bauern (Isolani). Dies ist ein Bauer mit dem Merkmal,
dass auf benachbarten Linien keine Bauern der- selben Farbe stehen, der also nicht mehr durch einen Bauern gedeckt
werden kann. Wird er angegriffen, müssen höherwertige Figuren zur Unterstützung herangezogen werden und sind damit
gebunden, was nachteilig ist. Andererseits kann ein isolierter Bauer auch stark sein, wenn er z. B. beweglich ist und
es sich vielleicht sogar schon um einen weit vorgerückten Freibauern handelt.
Auch der Isolani auf d4 kann nicht mehr auf die Unterstützung von Bauern aus dem eigenen Lager
zählen. Im Gegensatz zu dem b-Bauern im letzten Diagramm handelt es sich bei ihm aber nicht um einen Freibauern, denn
der gegnerische Bauer e6 kontrolliert das Feld d5.
Auch der Doppelbauer- es handelt sich dabei um zwei Bauern derselben Farbe auf einer Linie - gelten oft als Schwäche
und sind Angriffsmarken, vor allem wenn sie nicht von benachbarten Bauern unter- stützt werden. Dies gilt besonders
im Endspiel. Im Mittelspiel hat die Partei mit Doppelbauern oft einen Gegenwert, indem sie eine halboffene Linie
durch die Verdopplung bekommt. In Einzelfällen können Doppelbauern im Zentrum auch sehr stark sein, wenn sie viele
wichtige Zentrumsfelder kontrollieren.
   
Weder im Zentrum noch am Königsflügel gibt es für den weißen König im linken Diagramm ein
Durchkommen. Der Doppelbauer auf der f-Linie (die Bauern f7/f6) deckt die Felder e6, g6, e5 und g5 ab. In Verbindung
mit den Bauern g7 und h7 ist der Königsflügel für den weißen König undurchdringlich. Der Bauer c6 verwehrt zudem ein
Eindringen über d5. | Unüberlegtes oder vorschnelles Zurücknehmen mit einem Bauern kann leicht zu dauerhaften
Schwächen führen. So ist im rechten Diagramm denkbar, dass der g-Bauer durch einen Abtausch auf dem Feld f6 gelandet
ist, schwupps öffnet sich für den Gegner ein Durchschlupf.
Im Gegensatz zum isolierten Bauern und dem Doppelbauern, der wie dargelegt nicht immer eine Schwäche darstellt, ist
der rückständige Bauer ein Bauer, der von den weiter vorn stehenden Bauern auf benachbarten Linien nicht mehr gedeckt
werden kann und der sich zudem auf einer halboffenen Linie befindet - dagegen so gut wie immer ein Nachteil. Diese
drei Bauernformen entstehen in der Regel in späteren Phasen der Partie.
Der Bauer d3 ist rückständig: Er steht auf einer halboffenen Linie und das Feld, das er als
nächstes betreten muss, wenn er vorgezogen wird, kann nicht mehr von Bauern der eigenen Farbe kontrolliert werden und
er selbst kann auch nicht mehr von Bauern gedeckt werden. Figuren müssen sich um ihn kümmern, während die geballte
Kraft der gegnerischen Steine ihn unter Druck setzen kann.
In der Eröffnung, wo noch nicht viele oder möglicherweise gar keine Bauern abgetauscht wurden, wimmelt es auf dem
Brett vor Bauern und sie verkeilen sich manchmal ineinander, es bilden sich sogenannte Bauernketten. Diese entstehen -
so Gerhard Schmidt in seinem Buch "Zentrumsformen" (ISBN 9783888054983), aus dem noch einige Sätze zitiert werden -
aus anderen (beweglichen) Bauernformationen.
Bewegliche Bauern sind der Ausgangspunkt für Bauernketten. Die Bauern rücken vor, ohne die beidseitigen
Tauschmöglichkeiten zu nutzen und stoßen frontal mit den Bauern des Gegners zusammen. Von nun an sind sie unbeweglich.
Ein typisches Beispiel stellt eine Variante der Französischen Verteidigung dar: 1.e4 e6 2. d4 d5 3. e5
Hier hat sich beidseitig eine Bauernkette herausgebildet, bei Schwarz f7/e6/d5, bei Weiß
d4/e5. Wozu ist eine Bauernkette gut? Oft schränkt sie die Reichweite der gegnerischen Figuren ein. Dies betrifft
besonders die langschrittigen Figuren, also die Schwerfiguren und die Läufer, während der Springer - die einzige
Figur, die über Steine hinweg springen kann - noch am besten mit dem Bauernwall zurechtkommt.
Die Bauernkette bietet aber auch den größtmöglichen Schutz für die eigenen Bauern, die sich gegenseitig decken
(siehe z. B. oben die schwarze Kette f7/e6/d5). Der Bauer e6 deckt den Vordermann auf d5 und wird seinerseits vom Hintermann gedeckt. Es gibt auch
längere Bauernketten (s.u. die weiße Kette b2, c3, d4, e5), eines haben sie gemeinsam: nur das letzte Glied der Kette,
hier der Bauer f7 bzw. der Bauer b2, die Basis der Kette, wird nicht von einem Bauern gedeckt und ist daher anfälliger
als die anderen. Folgerichtig geschieht ein Angriff auf die Bauernkette am schwächsten Punkt, ihrer Basis. Der große
Schachpädagoge Aron Nimzowitsch hinterließ viele Lehrsätze, die trotz ihrer etwas altertümlich anmutenden Diktion bis
heute als ideale Faustregeln gelten, so hier: Um ein Gebäude zu zerstören, muss man das Fundament sprengen. Das
leuchtet natürlich sofort ein. Auf Bauernketten übertragen, bedeutet dies: die Attacke der Basis der Kette.
Der Angriff mit Hebeln
Die Bauern werden derart vorgezogen, dass sie gegnerische Bauern schlagen können, in dem mittleren Diagramm mit dem
Zug 3. …c5. Was nun? Schlägt Weiß den Bauern, 4. dxc5, so ist seine Bauernkette zerstört, obendrein verhilft dieser Zug dem
Gegner zur Entwicklung, 4. …Lxc5. Das Schlagen aus der Kette heraus ist in den seltensten Fällen empfehlenswert, besser
ist es, mit 4. c3 die Kette zu sichern.
Nun hat sich bei Weiß eine ganz schön lange Kette herausgebildet, die reicht
von b2 bis nach e5. Dem Lehrsatz von Nimzowitsch folgend, müsste Schwarz eigentlich den Bauern b2 unter Druck setzen,
aber wie? Weit und b r e i t sind dafür keine Mittel (Bauern) zu sehen. Deshalb konzentriert sich Schwarz in dieser
bekannten Stellung auf den Punkt d4 und macht ihn zu einer (angreifbaren) Basis der weißen Bauernkette. Sofort 4. …cxd4
hätte nach 5. cxd4 dieses Ziel zwar erreicht, jedoch dem Anziehenden das Feld c3 für den Springer gesichert. Mehr
Erfolg verspricht die - aus der Erfahrung gewachsene- Zugfolge 4. …Sc6 5.Sf3 Db6.
Nach dem späteren Abtausch auf d4,
…cxd4 und als Antwort c3xd4, verkürzt sich die weiße Bauernkette beträchtlich, und die Basis d4 gerät zunehmend unter
Beschuss. Diese Aktivität entschädigt den Schwarzen für den immer noch nicht aktiv stehenden Läufer c8.
Schachschule 64 als PDF
Teil 12 der Schachschule 64 ist in Ausgabe Schach-Magazin 64, Mai 2011, erschienen und kann
hier
als PDF-Datei heruntergeladen werden. Die Printausgabe unterscheidet sich etwas von der Online-Version, bei der das
eine oder andere Diagramm und hin und wieder weiterer erklärende Text die jeweilige Folge ergänzen.
Zu der nachstehend abgebildeten Stellung kam es am im Januar beim Open in Gibraltar zwischen zwei Spielern der
Weltklasse. Weiß hat einen Bauern mehr, kann aber die Punkteteilung – zu der es mehrere Wege gibt – nicht verhindern:
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